Welchen Einfluss hatte das Fernsehen?

von Redaktion

Aufbruch in eine neue Zeit: 230 Stunden Liveprogramm – und frivole Clips im Ersten

VON GÜNTER KLEIN

Fernseh-Realität des Jahres 1972 war: Drei Sender, ARD, ZDF, das regionale Dritte. In günstig gelegenen Gebieten im Süden der ORF, dessen Attraktion der Film am Vormittag um 10.30 Uhr war – das Programm für Schichtarbeiter. In Deutschland war in der Regel bis 16 Uhr nur das Testbild zu sehen, dann begann die Kinderstunde.

Die zwei olympischen Wochen im August und September 1972 brachten den Deutschen ein neues Fernseherlebnis. Zum ersten Mal begannen die Übertragungen am frühen Morgen. Wo in München, Kiel und Augsburg ein Wettkampf stattfand – er wurde live ausgestrahlt. 230 Stunden lang war Olympia. Im Schnitt über 13 Stunden am Tag. Eine Dimension, die die Spiele zuvor nicht annähernd erreicht hatten. München 1972 waren die ersten Fernsehspiele. Man erkannte das Potenzial von Live-Sport im TV. Die Eröffnungsfeier verfolgten weltweit eine Milliarde Menschen.

Schon 1968 erfolgte in München die Weichenstellung für topprofessionelle Abläufe. Die beiden Anstalten ARD und ZDF gründen das DOZ, das Deutsche Olympische Zentrum, Geschäftsführer wird der Fernsehroutinier und Quizmaster Robert Lembke. Das DOZ kümmert sich um alles: Ausstattung der künftigen Wettkampfstätten mit der Technik, Bau von Studios, Einbeziehung der Satellitenanlage in Raisting am Ammersee, um die ganze Welt mit Bildern aus München zu versorgen. Das DOZ erstellt in den Jahren vor den Spielen auch eigene Produktionen wie die legendären „Olympische Notizen“ im Bayerischen Fernsehen, die die Vorbereitung auf die Großveranstaltung, vor allem den Bauprozess, beleuchten.

Olympia richtet sich nach dem Fernsehen – erstmals. Willy Daume, dem deutschen NOK-Chef, dessen Idee und Antriebskraft die Vergabe der Spiele an München zu verdanken gewesen waren, setzt durch, dass jede Medaillenentscheidung für sich alleine steht und keine gleichzeitige Konkurrenz hat. Die Judo-Wettbewerbe etwa werden so gelegt, dass deutsche Mitwirkende am Abend rechtzeitig im Olympia-Studio sein können. Beim Schwimmen werden Unterwasserkameras eingesetzt, die die Wende zeigen, beim Rudern fährt eine Kamera neben der Strecke her. Für deutsche Familien ist Olympia ’72 der Anreiz, an die Anschaffung eines Farbfernsehgeräts zu denken. Seit 1967 waren die Bilder bunt, doch nur acht Prozent der Haushalte hatten fünf Jahre nach Willy Brandts historischer Freischaltung das passende Gerät. Olympia wird zum Umsatztreiber.

Daume schafft es auch, beim Fernsehdeal das IOC außen vor zu lassen. Dafür, dass die beiden deutschen Sender 100 Millionen D-Mark ins DOZ investiert haben, sind sie Herren über die Rechte. Sie können sie auch weiterveräußern. ABC aus Amerika kauft sich ein. Olympiarechte werden zum Geschäft, das IOC holt sie sich bald zurück.

München ist für die Medien wunderbar offen. Journalisten tummeln sich auf den Spielfeldern – und einige ausgewählte Filmregisseure wie Milos Forman, der sich dem Zehnkampf widmet, John Schlesinger oder der von der Event-Show „Wünsch dir was“ bekannte Michael Pfleghar, der später die Comedy-Serie „Klimbim“ erfinden wird, dürfen für den Kino-Dokumentarfilm „Visions of Eight“ mit eigenen Teams ganz nahe an die Olympia-Teilnehmer heran.

Die deutschen Fernsehzuschauer lernen in der ersten Olympia-Woche eine neue Sichtweise in der Sportberichterstattung kennen. Das Erste zeigte „6 x 6“. Clips, bei denen Olympia-Teilnehmerinnen in Szene gesetzt wurden. Helmut G. Müller, der verantwortliche Redakteur, erzählte: „Wir hatten klare Vorgaben: In jeder Staffel musste ein deutsches Mädchen vorkommen, ebenso sollte eine Exotin dabei sein.“ Wie ein Model-Scout jagte der damals 33-jährige Redakteur Müller durchs Olympische Dorf. Nach dem Attentat vom 5. September verschwanden bereits abgedrehte Folgen im Archiv, sie wurden nie ausgestrahlt. „Wir haben Säcke von Zuschriften bekommen“, blickte Helmut G. Müller auf die softerotische Reihe zurück, die 1976 in Montreal wiederbelebt wurde, aber schon nicht mehr den Zeitgeist traf. „6 x 6“ war der Pop von 1972.

Der 5. September war der Einschnitt der Spiele. Nun kam nicht mehr die Freude, sondern der Schrecken in die Wohnstuben. Dass vergessen wurde, die Live-Übertragung zu unterbinden, wurde als Kardinalfehler in der Bekämpfung des Terrors im Dorf benannt. Die palästinensischen Attentäter, die das israelische Haus besetzt hatten, konnten verfolgen, was draußen geschah.

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