München – Richtig lange konnte Niklas Süle die besondere Konstellation nicht auskosten. Aber wer den Nationalspieler kennt, weiß, dass er auch die paar Wochen gereicht haben, um sie in vollen Zügen zu genießen. Dass der Ex-Bayer seinen Mannschaftskollegen im Kreise der deutschen Nationalmannschaft mit Blick auf die Tabelle – in der Dortmund seinerzeit drei Punkte mehr hatte als der Branchenprimus – den einen oder anderen Spruch um die Ohren gehauen hat, hatte Joshua Kimmich vor zwei Wochen verraten. Seit vergangenem Wochenende aber dürfte Süle verstummt sein. Die Bayern und der BVB begegnen sich punktgleich – auf Platz drei und vier.
Wenn das Topspiel am Samstagabend (18.30 Uhr) im Signal Iduna Park angepfiffen wird, richten sich die Augen wie immer auf die Angriffsreihen. Da stehen die Juwelen Jamal Musiala auf der einen und Jude Bellingham auf der anderen Seite. Da tänzeln Sadio Mané und Leroy Sané auf den Flügeln auf und ab. Da will das Übertalent Youssoufa Moukoko seine Aufstellung rechtfertigen. Diejenigen, die den Virtuosen, Dribblern und Ballkünstlern gegenüber stehen, haben den etwas weniger spektakulären Job, ihr Spiel zu zerstören. Auf der einen Seite Dayot Upamecano und Matthijs de Ligt, auf der anderen Seite – und weitaus interessanter – Nico Schlotterbeck und eben: Süle. Der Übersiedler in seinem ersten Spiel gegen den Ex. Kann er Abwehrchef?
Jürgen Kohler ist sich im Moment noch nicht sicher. „Er ist deutscher Nationalspieler – von daher hat der BVB alles richtig gemacht, ihn zu holen“, sagt der Weltmeister von 1990 gegenüber unserer Zeitung. Mit Blick auf den durchwachsenen – und von Verletzungssorgen dominierten – Start in Dortmund aber sieht er Süle noch in der Bringschuld. Kohler beschreibt den 27-Jährigen als „gestandenen Spieler in bestem Alter. Aber wenn es drauf ankommt, habe ich ihn noch nicht in der Rolle des Bosses gesehen.“ Den Total-Blackout gegen Bremen (2:3) erlebte Süle auf dem Platz mit, vergangene Woche in Köln (2:3) sah er bei zwei Gegentreffern nicht allzu gut aus. Dabei will er die Chance, die sich in Abwesenheit des zuletzt an Grippe erkrankten Mats Hummels bietet, nutzen, um seinen Ansprüchen gerecht zu werden. Freilich sieht er sich nicht als Ergänzungsspieler, sondern als Stammkraft. Auch mit Blick auf die WM.
Der Erfolg der deutschen Mannschaft „ist davon abhängig, wie sich die Blöcke einspielen“, sagt Kohler. In der Offensive sind da die Bayern gefordert, in der Defensive der BVB. Neben Süle kämpft Nico Schlotterbeck um den Platz neben Antonio Rüdiger, auch Hummels rechnet sich noch WM-Chancen aus. Kohler sieht das zwar kritisch und sagt: „Ich glaube nicht, dass Mats Hummels als Backup die Ruhe hat, wenn er nicht zum Einsatz kommt.“ Eine Absprache mit Bundestrainer Hansi Flick aber gibt es. Auch Hummels will sich im BVB-Trikot beweisen, zumal „in seinen Leistungen noch Schwankungen sind“, wie Kohler sagt.
Die Zahlen im Abwehr-Trio des BVB sprechen allerdings eher für den Erfahrensten im Bunde. Während das Duo Süle/Schlotterbeck in 209 gemeinsamen Minuten neun Gegentreffer hinnehmen musste, holte Hummels in 511 Minuten den Ball nur ein Mal aus dem eigenen Netz. Kohler will noch Zeit verstreichen lassen, sagt: „In zwei Monaten kann noch so viel passieren.“ Trotzdem ist für ihn die Abwehr ein Schlüssel zum Erfolg. „Wenn sie harmoniert, hat das DFB-Teamreelle Chancen auf den Titel.“
Der Druck liegt also auf Süle und Co., im Nationaldress – und beim BVB. Für das Topspiel wünscht sich „Fußballromantiker“ Kohler trotzdem ein 3:3: „Das spräche zwar nicht für die Abwehrreihen – aber würde viel Spaß machen.“ HANNA RAIF