Dortmund – Als Oliver Kahn da am Samstagabend vor der offenen Tür des Mannschaftsbusses stand, sah er recht entspannt aus. Die Hände in den Hosentaschen, die Stimme gedämpft, die Worte wohlüberlegt. Der Vorstandsboss des FC Bayern hatte in den Katakomben des Dortmunder Stadions optisch nur noch wenig gemein mit jenem Mann, der keine Stunde zuvor auf der Tribüne ausgerastet war wie zu besten Spieler-Zeiten. Trotzdem blieben die drei, vier Sekunden, in denen er sich nicht unter Kontrolle hatte, als Bild dieses sehenswerten, umkämpften, giftigen Last-Minute-2:2 im Topspiel im Kopf. Der Titan in Rage – aus gutem Grund.
„Wir haben uns das alles selbst zuzuschreiben“, gab der 53-Jährige später zu Protokoll und meinte damit sowohl den Ausgleich durch Anthony Modeste in der fünften Minute der Nachspielzeit als auch die Gesamtsituation beim Serien-Meister. Von „einer erstaunlichen Saison“ sprach der Chef mit Blick auf gerade mal vier Siege aus den letzten neun Liga-Spielen und die Tabelle, in der Union Berlin und der SC Freiburg halt weiterhin oben stehen. Und er stellte unmissverständlich klar, was nicht nur im Bus des Staffs, sondern auch dem zehn Meter entfernt geparkten Gefährt der Spieler ankam: „Wir müssen jetzt schnell in die Puschen kommen, weil wir uns nicht darauf verlassen können, dass die Mannschaften über uns immer nur Unentschieden spielen oder verlieren.“
Seine Emotionen nahm Kahn am Tag darauf mit Humor, twitterte: „Da haut’s einem doch vom Stuhl.“ Dass die Stimmung im Bayern-Lager aber irgendwo zwischen „enttäuscht, traurig und verärgert“ lag, hätte Kapitän Manuel Neuer gar nicht aussprechen müssen. Dieser Abend hatte den 81 365 Zuschauern im Stadion und der Fußballnation von einer ausgeglichenen ersten Halbzeit über eine dominante Bayern-Phase bis hin zur Wiederauferstehung des BVB so viel geboten, in Reihen der Münchner aber letzten Endes zur Erkenntnis geführt, dass trotz der beiden jüngsten Siege gegen Leverkusen und Pilsen noch lange nicht alles wieder gut ist. „Das Ergebnis“, sagte Julian Nagelsmann, sei gerecht, „auch wenn es wehtut“. Neuer sprach von „zwei verschenkten Punkten“ und stellte klar: „Wir hätten mehr Coolness und Abgezocktheit gebraucht.“ Chancen auf das 3:0 hatte es nach den Toren von Leon Goretzka (33.) und Leroy Sané (53.) genug gegeben. Statt den Bayern aber trafen plötzlich die Gastgeber durch Youssoufa Moukoko und Modeste. „Man fragt sich warum“, sagte Goretzka.
Den Führungstorschützen hatte man schon kurz nach Abpfiff vollkommen konsterniert auf der Reservebank sitzen sehen. Eine Erklärung für den Einbruch hatte er weder da noch später parat. „Ich muss eine Nacht drüber schlafen“, sagte er – und unterstrich Kahns „Puschen-Ansage“: „Er meint damit uns Spieler – und das ist auch richtig.“ Die Konsequenz, einen dominanten Auftritt mit Ertrag zu krönen, habe man „vermissen lassen. Das ist uns jetzt zu oft passiert.“
Die gute Stimmung der letzten Woche war bei der Rückreise aus Dortmund dahin. Als die Mannschaft am Sonntag nach 1 Uhr zurück an der Säbener Straße war, hatten sich die Emotionen etwas gelegt, die Ratlosigkeit aber nicht. „Man hat jetzt nicht viel verloren – das ist kein Beinbruch“, sagte Neuer. Aber auch nicht das erhoffte Statement. Weder die Verletzungen von Alphonso Davies (Gehirnerschütterung) und Matthijs de Ligt (Adduktoren) noch diskutierte Schiedsrichterentscheidungen galten als Ausrede.
Kahns Schlusssatz lautete: „Wir müssen schnell auf Platz eins.“ Als er ihn sprach, rollte im Hintergrund ein Feuerwehrwagen durch die Katakomben. Das Blaulicht war an, die Alarmglocken (noch) nicht.