Las Vegas – Jetzt braucht der junge Mann aus Paris nur noch einen Spitznamen, der all dem gerecht wird, was man ihm andichtet. „Alien“ nannte ihn LeBron James, mit 37 Jahren noch immer der Markenbotschafter der Basketballwelt. „Wemby“ tauften die US-Medien diese Ausnahmeerscheinung unter den Ausnahmeerscheinungen. Gestatten, Victor Wembanyama, 18 Jahre alt, 2,25 Meter groß und derzeit das größte Basketballtalent der Welt. Seit LeBron James hat kein Jugendspieler solch einen Hype in den Staaten ausgelöst. Vor genau 20 Jahren übertrug der Sportsender ESPN ein Highschool-Spiel mit James im Abendprogramm und rief vor Millionen Zusehern die „LeBron-Mania“ aus. So weit ist es nun mit Wembanyama auch schon gekommen.
Vorige Woche sahen ihn die Amerikaner zum ersten Mal spielen. Natürlich live im Fernsehen. 200 Scouts, tausende Zuschauer und viele NBA-Repräsentanten in leitenden Positionen saßen in der schmucken neuen Arena in Las Vegas, staunten über den Franzosen, der aussieht, als hätte man sich einen Videospiel-Charakter erstellt. Trotz seiner Größe gleitet er elegant übers Feld, wirft und dribbelt wie ein Flügelspieler. 73 Punkte und neun Dreier erzielte er in zwei Partien für den französischen Erstligisten Boulogne-Levallois Metropolitans 92, sein Heimatverein, gegen das Nachwuchs-Team der G-League, der Aufbauliga unterhalb der NBA. Als ihn die Journalisten des Landes dann nach der Talentziehung 2023, der Draft, befragten, lieferte er ihnen ein schon jetzt legendäres Zitat. Angesprochen auf Scoot Henderson, den besten Amerikaner des Jahrgangs 2004, antwortete er keck: „Wenn ich nie geboren wäre, hätte er den Nummer-eins-Spot verdient.“ Die volle Ladung Selbstbewusstsein eines angehenden NBA-Superstars.
Am 22. Juni des nächsten Jahres wird Victor Wembanyama als erster Spieler von Ligachef Adam Silver aufgerufen werden. Die Frage ist nur: Welches Team bekommt den großen Preis? Die NBA unterhält ein System, das Parität unter den Klubs gewährleisten soll. Funktioniert folgendermaßen: Die schlechtesten Teams der Vorsaison bekommen als erste Zugriff auf die besten Talente des Jahrgangs. Verlieren im übertriebenen Maße lohnt sich seit jeher genauso wie Gewinnen. Wobei die Liga vor drei Jahren ihren Mechanismus reformiert hat, um chronische Erfolglosigkeit nicht noch mehr zu belohnen. Mittlerweile haben die miesesten drei Teams gleiche Quoten (14 Prozent) auf den ersten Pick, selbst beim Klub mit siebt-schlechtesten Bilanz sind’s noch 7,5 Prozent. Einen Monat vor der Ziehung wird ausgelost, wer an welcher Stelle wählen darf.
Im Fall von Victor Wembanyama erwarten jetzt die Experten ein nie dagewesenes Rennen um die letzten Plätze. Ehemalige Top-Klubs wie San Antonio oder Utah haben bereits ihre Stars verhökert. Selbst mittelmäßige Vereine könnten nach einem Fehlstart mit dem großen Ausverkauf beginnen oder ihre besten Spieler – unter fadenscheinigen Gründen – aussetzen lassen, um möglichst oft zu verlieren. Die San Antonio Spurs gelangten mit ähnlicher Taktik im Jahr 1996 an Tim Duncan, ihr Fundament für fünf Meisterschaften. Duncans Teamkollege Tony Parker betreute Wembanyama zuletzt bei seinem Klub in Lyon. Doch weil er dort weit weniger Einsatzzeit bekam als erhofft, wechselte er zurück nach Paris, wo sie nun Nationaltrainer Vincent Collet angestellt haben. Er soll Wembanyama auf die Jahre in der NBA vorbereiten. In den Staaten erwarten sie sehnsüchtig die Ankunft des Aliens. Die NBA-Saison startet am nächsten Dienstag – und für einen Teil damit auch das große Verlieren.
ANDREAS MAYR