Immer, wenn ein Club Deutscher Fußballmeister werden könnte, der es noch nicht war, wird die Balkonfrage gestellt. Weil es ja – geprägt natürlich durch die Dauerfeierbilder des FC Bayern München vom Marienplatz – die Annahme gibt, die Schale müsse dem jubelnden Volk vom Balkon des zuständigen Rathauses präsentiert werden. Wie sind die baulichen Gegebenheiten in Leverkusen, fragte man einst (und einer Antwort bedurfte es nicht), wie die in Wolfsburg? Was nun Berlin-Köpenick betrifft: sehr schmucke Stadtteilzentrale, Backsteinbau mit Turm – und wenn man aus dem Sitzungssaal hinaustritt, ist man auf einem Balkon, der groß genug aussieht, eine Mannschaft zu tragen. In dieser Hinsicht steht dem Titelgewinn in der Bundesliga durch den 1. FC Union Berlin also nichts mehr entgegen. Gut, die nächsten 24 Spieltage noch.
Und – werden die Eisernen Deutscher Meister? Sagen wir es so: Sie haben ein wesentliches Merkmal, das eine erfolgreiche Truppe ausmacht. Union ist defensiv stabil, was wichtig ist, weil es heißt: „Defence wins championships“. Im Team von Urs Fischer ist jedem klar, was er zu tun hat, und dieses Gefüge wirkt so stabil, dass nicht denkbar ist, die Berliner würden auf einmal krachend verlieren. Dennoch ist die Deutsche Meisterschaft für Union weiterhin sehr unwahrscheinlich, weil sich die Mathematik irgendwann gegen diese Mannschaft wenden wird. Der Fußball erhebt mittlerweile massenweise Daten, auf ihrer Basis kann man beurteilen, ob Ergebnisse den Kräfteverhältnissen in einem Spiel entsprechen – aus den Daten über Union kann man lesen: Es ist derzeit auch viel Dusel im Spiel. Der Aufsteiger von 2019 spielt über seinen Verhältnissen. Sein Glück für die Bundesliga: Die schwachen Vorstellungen, denen nicht auszuweichen ist, hat er in die Europa League verlegt.
Mit der nun geschaffenen Punktebasis kann sich Union sicher im vorderen Feld halten, und ein Pluspunkt könnte sein, dass diese Saison mit einer eingeschobenen Weltmeisterschaft konkurrierende Vereine wie Bayern, Dortmund, Leipzig, die Nationalmannschaften beliefern müssen, mehr beansprucht. Doch zumindest in München ist man sich sicher, Union noch abfangen zu können: Nähmen die Bayern den derzeitigen Tabellenführer ernst, hätten sie Torjäger Sheraldo Becker eine Summe der Wertschätzung genannt und Union auf der Jahreshauptversammlung abgekanzelt. Jedoch: Keine bösen Worte, keine verführerischen Zahlen – mit der Balkonfrage befassen sich die Bayern nur am eigenen Standort.
Guenter.Klein@ovb.net