München – Der erste Karrieresieg von Mercedes-Youngster George Russell beim GP von Sao Paulo wurde durch das Verhalten von Weltmeister Max Verstappen (24) kurz vor der Zieldurchfahrt und vor allen Dingen danach zur Nebensache. Was war passiert: Der niederländische Red-Bull-Pilot, der schon als Weltmeister feststeht, erhielt kurz vor der letzten Runde einen unmissverständlichen Funkspruch von seinem Renningenieur Gianpiero Lambiase: „Max, lass Checo bitte vorbei.“ Checo ist der Spitzname von Verstappens Teamkollege, dem Mexikaner Sergio Perez, der jeden Punkt braucht, um den Vizetitel gegen Ferrari-Fahrer Charles Leclerc einzutüten. Doch Verstappen verweigerte die Bitte, man kann auch sagen Befehl. Er behielt seinen sechsten Platz, Perez wurde nur Siebter und bekam zwei Punkte weniger zugesprochen als vom Red-Bull-Team geplant.
Danach eskalierte die Situation. Perez meldete sich über Funk: „Das zeigt, wer er wirklich ist!“ Verstappen zeigte kein Verständnis für Perez oder sein Team: „Ich habe es euch schon beim letzten Mal gesagt. Fragt mich das nicht noch einmal, okay? Ist das klar? Ich habe meine Gründe genannt. Und ich stehe dazu.“ Die wollte er nicht näher benennen.
Bei Verstappen steht Gerechtigkeit über schauspielerischem Teamplaying. Er zeigt Zivilcourage, wenn ihm seine Werte genommen werden und genau das hat das Red-Bull-Team in Brasilien getan. Was aber hat Verstappen so sauer gemacht?
Es geht um das Qualifying im Mai beim GP in Monaco. Kurz vor Ende beim gnadenlos Ritt durch die engen Häuserschluchten des Fürstentums, bei dem der Startplatz wichtiger ist als irgendwo anders, lag Perez hinter den beiden Ferraripiloten auf Platz drei – aber vor Teamkollegen Verstappen. Perez war vor ihm auf der Strecke unterwegs, beide in ihrer letzten entscheidenden Runde. Perez lag von den Zwischenzeiten hinter dem Niederländer, der mit zwei Zehntel Vorsprung sogar auf Pole-Kurs war. Dann aber knallte der Mexikaner in die Mauer. Es gab eine rote Flagge, das Training wurde abgebrochen. Perez blieb Dritter, Verstappen Vierter und musste hinter ihm starten. Perez gewann einen Tag später das Rennen. Den Grundstein hatte er sich mit dem dritten Platz in der Startaufstellung gelegt, während Verstappen nach verpatzten Boxenstopps nur Dritter wurde. Das aber regte den Niederländer nicht auf. Vielmehr die Tatsache, dass Perez im Training mit Absicht in die Mauer gefahren war, um eine rote Flagge zu provozieren. Das, so hört man, wäre auf Grund der Telemetriedaten des Mexikaners bei seinem Unfall eindeutig gewesen. Red Bull und Verstappen wussten das. Das Team aber unternahm nichts, Verstappen fühlte sich deswegen betrogen. Und teilte Teamchef Christian Horner daraufhin mit, dass der in Zukunft Perez keine Hilfe geben würde, falls der die benötigt.
Fest steht: Der Vorfall kann für Red Bull gravierende Folgen haben. Denn wenn die Automobilbehörde FIA den Vorfall jetzt untersucht, könnte es drastische Strafen für Perez wegen eines mit Absicht herbeigeführten Unfalls geben. 2008 gab beispielsweise Nelson Piquet junior zu – damals bei Renault unter Vertrag – auf Wunsch des Teams in Singapur absichtlich in die Mauer gefahren zu sein. Die darauf benötigte Safety-Car-Phase half Piquets Teamkollegen Fernando Alonso das Rennen zu gewinnen. Piquet wurde auf Lebenszeit gesperrt. Das könnte auch Perez drohen, falls die FIA dem Mexikaner Absicht bei seinem Crash in Monaco beweisen kann. Verstappen wäre das egal. Der Niederländer würde lieber den bei McLaren ausrangierten Daniel Ricciardo als alten und neuen Teamkollegen haben. Die beiden fuhren drei Jahre von 2016 bis 2018 bei Red Bull – sie lieferten sich beinharte Duelle auf der Piste, in Baku krachte es sogar, aber, und das ist entscheidend: Beide respektieren sich.
Fast noch schlimmer für Red Bull aber ist: Das Tischtuch zwischen Verstappen und Teamchef Horner scheint zerschnitten. Red-Bull-Chefberater Helmut Marko, der Vertraute Verstappens im Team, muss jetzt vermitteln, sonst droht Red Bull sogar sein „Wunderkind“ zu verlieren. Denn der steht zu seinen Werten. Das kann er auch, denn er weiß: Alle Teams, einschließlich Neueinsteiger Audi, würden das Lenkradgenie mit Kusshand nehmen.
Fest steht: Ex-RB-Leipzig Chef Oliver Mintzlaff, der nach dem Tod von Red-Bull-Gründer Dietrich Mateschitz beim Getränkekonzern verantwortlich unter anderem für das Formel-1-Projekt sein wird, muss einen Flächenbrand löschen, bevor er seinen neuen Job richtig angefangen hat. RALF BACH