München – Vor knapp zwei Wochen, kurz bevor es für das deutsche Bob-Team nach Kanada ging, wurde bei der Familie Lochner im beschaulichen Königssee das Fotoalbum hervorgeholt. Recht dick ist es inzwischen, acht Jahre im Weltcup bringen eine Menge Stoff mit sich. Aber Johannes Lochner nahm sich die Zeit, es in Ruhe durchzublättern. Von „so schönen Erinnerungen“ spricht der Olympiazweite von Peking, und in diesen letzten Momenten daheim fühlte er sich in seiner Entscheidung bestätigt, noch mindestens einen Winter an seine erfolgreiche Karriere dranzuhängen.
Heute geht sie los, die Saison, in Whistler, auf der schnellsten Bahn der Welt, rasen die Zweierbobs um die ersten Weltcup-Punkte. Zwar haben sich die Vorzeichen nicht geändert – die Welt-Elite versucht ein weiteres Mal Dominator Francesco Friedrich einzufangen –, dennoch startet zumindest Lochner ganz anders als in den letzten Jahren. „Ich will alles genießen, mitnehmen, aufsaugen“, sagt der 32-Jährige, der sich erst im Juni, mehr als drei Monate nach seinem Doppel-Silber dazu entschieden hat, weiterzumachen. Denn die letzten Jahre, gibt er mit Blick auf die Corona-Pandemie und Weltcups unter strengen Hygienevorschriften zu, „waren für mich maximal emotionslos“.
Es muss schon viel passieren, damit Lochner, eine bayerische Frohnatur, die Lust an etwas verliert. Aber tatsächlich war das Bobfahren für den Weltmeister von 2017 vor den Spielen eher Pflicht als Vergnügen. Er vergleicht die Situation sogar mit dem Scheidepunkt in seinem Sportlerleben. Als Kind und Jugendlicher war der Berchtesgadener nämlich auch im Skisport erfolgreich, Pisten-Gaudi allerdings hatte er irgendwann nicht mehr. Erst lange, nachdem er sich für den Bobsport entschieden hatte, stellte er sich wieder freiwillig auf die Bretter: „Inzwischen habe ich richtig Bock auf Skifahren.“ Ähnlich befreit ist das aktuelle Gefühl in seinen Schlitten, dem kleinen wie dem großen.
„Ich hock’ mich rein und habe einfach Spaß“, sagt er, die ersten Eindrücke aus Whistler bestätigen ihn. Das deutsche Material ist aktuell der internationale Maßstab, die Beine sind spritzig, das Fahrgefühl stimmt: „Deshalb erhoffe ich mir von der Saison, dass sie einfach noch mal cool wird.“ Acht Weltcup-Stationen sowie die WM auf der Natureisbahn in St. Moritz Ende Januar stehen an, Lochner rechnet sich Einiges aus. Weil das Feld sich nach den Abtritten von Justin Kripps (Kanada) und Benjamin Maier (Österreich) neu sortieren muss, gehört er zu den aussichtsreichsten Friedrich-Jägern. Bundestrainer Rene Spies sagt sogar: „Hansi ist dran! Er hatte den Franz bereits in Peking am Rande einer Niederlage.“ Am Ende aber holte der Seriensieger zwei Mal Gold.
Die Revanche findet im Weltcup statt, denn ein weiteres olympisches Duell wird es eher nicht geben. Zwar plant Spies bis 2026 mit Lochner, er selbst aber klingt so, als befinde er sich ab sofort auf Abschiedstournee. Haus-Umbau, Firma-Verkauf, neuer Job, Doktoranden-Stelle, Hochzeit: Lochner hat viel im Kopf – und sagt: „Wenn kein Platz mehr für den Sport ist, ist es so.“ Im Frühsommer wird er sich wieder Gedanken machen. Und wer weiß? Vielleicht ist bis dahin das Foto im Album, auf das er so lange schon wartet. Kulisse: St. Moritz. Motiv: Lochner ganz oben. Er lacht und sagt: „Ich will dem Franz nicht schon wieder die Hand schütteln müssen. Das habe ich oft genug gemacht.“ HANNA RAIF