Darf ein Führungsspieler wie Ilkay Gündogan den verpatzten Auftakt gegen Japan zum Anlass nehmen, um medienwirksam Kritik an seinen Teamkollegen zu üben? Ja, er darf. Nein, er muss sogar! Zumal Kapitän Manuel Neuer die Sichtweise des Mittelfeldspielers teilt. Gleiches gilt für Thomas Müller, auch wenn dieser sich vor den Mikrofonen diplomatischer zeigte als seine beiden Kollegen.
Mehrere Umstände einen das Kritiker-Trio Neuer, Müller, Gündogan. Erstens: Alle drei zählen zur Ü 30-Fraktion in der Mannschaft von Bundestrainer Hansi Flick. Zweitens: Sie spielen aus diesem Grund die letzte Weltmeisterschaft ihrer Karriere. Drittens: Alle drei waren beim WM-Vorrunden-Aus in Russland 2018 dabei, das als bisher größtes Desaster der Geschichte der Nationalmannschaft gilt. Viertens: Die Routiniers wollen sich nicht mit einer erneuten Blamage von der größten Bühne des internationalen Fußballs verabschieden. Hoch veranlagte Spieler aus der Japan-Startelf wie Kai Havertz oder Serge Gnabry haben in jedem Fall noch eine Weltmeisterschaft vor sich. Gleiches gilt für die Abwehrspieler wie Nico Schlotterbeck oder David Raum. Dementsprechend herrscht eine Art Generationenkonflikt innerhalb des DFB-Teams. Nicht umsonst sagte Gündogan: „Ich weiß nicht, ob da die Reife fehlt – oder auch ein Stück weit die Qualität, für solche Situationen bereit zu sein. Insgesamt ist das sehr enttäuschend.“
Allerdings ist diese Wortwahl ein Spiel mit dem Feuer. Denn sie offenbart, dass die Stimmung in der Mannschaft doch angespannter ist, als es in den vergangenen Wochen nach außen dargestellt wurde. Zudem ist die Generation Havertz nicht gerade dafür bekannt, knallharte Kritik als Motivationsspritze zu nutzen. Im Gegenteil, sie taucht vielmehr trotzig ab. Bundestrainer Hansi Flick hat laut eigener Aussage zwar keine Bedenken, dass sich seine Spieler nun auch gegenseitig die Schuld zuweisen – er ist aber trotzdem mehr denn je als Moderator gefordert. Im schlimmsten Fall sogar als Mediator. Hansi, der Menschenfänger, hat es als Bundestrainer zum ersten Mal mit solch einer Zerreißprobe innerhalb des Teams zu tun. Das vorgezogene erste K.-o.-Spiel am Sonntagabend gegen Spanien wird zeigen, wie tief die Gräben in seiner Mannschaft wirklich sind.