Doha – Dem deutschen Fußball hing über Jahrzehnte das Wembley-Tor von 1966 nach – die größte Ball-über-der-Linie-oder-nicht-Frage der Welt. Die von Doha, die sich im Khalifa International Stadium zutrug, ist eine Nummer kleiner, denn es geht nicht um das Überschreiten der Tor-, sondern der Torauslinie. Bei der Vorlage, die der Japaner Mitoma auf Tanaka gegeben hatte – war der Ball da nicht schon im Aus gewesen? Es war die Szene, die zu Japans 2:1-Siegtreffer gegen Spanien führte und zum WM-Aus der deutschen Mannschaft 52 Kilometer weiter im Parallelspiel. Nun gibt es also auch ein Khalifa-Tor. Oder eine Khalifa-Torvorlage.
Es gibt bei der Beurteilung stets einen Live-Eindruck und eine Erkenntnis nach einer Untersuchung. Ao Tanaka als Torschütze war der Situation sehr nahe, er sagte: „Ich habe den Ball klar halb im Aus gesehen.“ Halb ist nicht ganz Aus – also alles regulär. Doch der Düsseldorfer schränkte ein: „Ich war aber auf meinen Abschluss konzentriert.“ In der Wahrnehmung des Schiedsrichter-Gespanns war der Ball im Aus, das Tor wurde schnell zurückgepfiffen. Als Referee Victor Miguel Gomes aus Südafrika an seinem Headset zu nesteln begann, „wusste ich, dass was passiert“, sagte Spaniens Trainer Luis Enrique.
Die neue Interpretation der Bilder lautete: Hauchzart doch noch nicht über der Linie. Wobei der Ball diese nicht mehr berühren muss, die Regel sagt, dass es keine Rolle spielt, „ob der Ball auf dem Boden oder in der Luft die Linie vollständig überschreitet“. Der deutsche Schiedsrichterexperte Patrick Ittrich (Magenta TV) sprach von einem „bildlichen Beweis“, der erbracht werden müsse, um eine Entscheidung aufzuheben – und dafür sah Victor Miguel Gomes die Voraussetzungen wohl erfüllt. Japans Trainer Hajime Moriyasu meinte: „Es gibt großartige Technologien im Fußball.“ Werde also schon stimmen, wie entschieden worden war. Japans 2:1-Sensation gegen Spanien und den Vorstoß ins Achtelfinale gegen Kroatien nimmt die Diskussion über eine Millimeterentscheidung keineswegs den Glanz. Die „Blue Samurai“ lieferten ein Meisterwerk der Einstellung und der Taktik ab. Ungewöhnlich für eine hierarchische Struktur in einer asiatischen Gesellschaft: Moriyasu beteiligte seine Spieler an der Findung eines Systems für das Match gegen Spanien. „Wir haben uns kollektiv für eine Option entschieden und sie im Spiel implementiert“, sagte er. „Auch nach dem 0:1 achteten wir auf die Abwehr und warteten darauf, hinter die spanische Abwehr zu kommen.“ Es gelang nahezu perfekt.
Moriyasu war der Mann des Abends: der stille kleine Trainer, der nach dem 0:1 gegen Costa Rica massiv in die Kritik geraten war. Nun stand er entspannt lächelnd im Khalifa-Stadion. Im Falle eines spanischen Ausgleichs wäre Japan ausgeschieden, es hätte sich noch einmal so angefühlt wie das „Drama von Doha“. In Katar hatte Japan – mit Moriyasu als Spieler – vor 29 Jahren in der WM-Qualifikation durch ein 2:2 gegen Iran die WM 1994 in den USA verspielt, das Gegentor fiel in der Nachspielzeit. Das Trauma des japanischen Fußballs. Jetzt nicht mehr. „Ganz Asien kann unser Glück teilen“, lud Moriyasu die Nachbarn ein. Er erhielt Applaus und verneigte sich.
GÜNTER KLEIN