München – Enttäuscht von Olympia abreisen – das kann schon vorkommen in einem Sportlerleben. Aber bereits nach der Eröffnung heimfahren – das ist völlig ungewöhnlich. Stefan Gaisreiter ist 1976 in Innsbruck nach der Feier im Bergisel-Stadion ins Auto gestiegen, mit der Absicht, seine Karriere zu beenden. Dass zwei Wochen später ein Höhepunkt seiner Laufbahn folgen sollte, ahnte er nicht. Am Samstag wird der ehemalige Bobfahrer 75 Jahre alt. Wenn er von damals erzählt, merkt man, was er im Gespräch mit unserer Zeitung auch sagt: „Ich bin Enthusiast. Ein positiver Enthusiast.“
Der Ohlstädter gerät ins Schwärmen, wenn er von Olympia und Weltmeisterschaften erzählt, vom Sport aber auch den prägenden Erfahrungen abseits des Eiskanals. 1968 die erste Teilnahme an Olympischen Spielen in Grenoble, bei der „man merkte, was Olympia bedeutet“, 1972 die Spiele in Sapporo. Dazwischen, 1969 die WM in Lake Placid, die erste Reise nach Amerika für den damals 22-Jährigen. Das alles erlebte Gaisreiter aber nicht als einziger Ohlstädter.
Das Dorf am Fuße des Heimgartens war damals eine Bob-Großmacht. Schon 1962 hatte Franz Schelle WM-Gold im Viererbob nach Hause gebracht. Ihm folgte später der Viererbob mit Gaisreiter, dem Piloten Wolfgang Zimmerer, Peter Utzschneider sowie dem inzwischen verstorbenen Walter Steinbauer. Das Quartett des SV Ohlstadt holte unter anderem Gold bei der WM 1969 und Bronze bei Olympia 1972 (Zimmerer gewann dort auch Gold im Zweier-Bob).
Für Gaisreiter, den Jüngsten im Team, gab es allerdings hin und wieder Enttäuschungen zu verarbeiten. Zu Großveranstaltungen wurde er auch mal ausgewechselt. „Sportlich war das immer in Ordnung, aber wenn man dazugehört, ist das einfach hart“, meint Gaisreiter. Bei Olympia 76 war er seit zwei Jahren selbst Pilot, dort setzte es dann die nächste Ernüchterung: Der amtierende Deutsche Meister bekam mit dem Anschieber Donat Ertel keinen der beiden BRD-Startplätze. „Niederschmetternd“ sei das gewesen, „für jemanden, der so mit Leidenschaft dabei ist“, sagt er.
Nach der verbitterten Autofahrt nach Hause habe ihn dann seine Frau überredet weiterzufahren. „Am nächsten Tag bin ich wieder hin“, erinnert er sich. Zumindest am Viererbob-Training konnte der hauptberufliche Installateur so noch teilnehmen.
Ganz anders lief es zwei Wochen später. Bei der EM im schweizerischen St. Moritz holte er Gold. Mit Donat Ertel, Hans Wagner und Walter Gillik verwies er die Medaillengewinner von Olympia auf die Plätze zwei bis vier. „Mein größter Erfolg“, sagt Gaisreiter, „eben wegen der Vorgeschichte“. Auch WM-Gold 1979 am Königssee kann für ihn da nicht mithalten. Olympia-Gold könnte es wohl – und das war auch anvisiert, bei den Spielen 1980 in Lake Placid. Doch diese erlebte er nicht vor Ort. Doch immerhin erlebte er sie.
Bei einem Sturz zwei Wochen zuvor bei der Bob-EM (wieder St. Moritz) riss es ihm den Helm vom Kopf und er blieb, „wie es danach zumindest analysiert wurde“, an einer vorstehenden Holzbohle hängen, wobei eine seiner Halsschlagadern getroffen wurde. „Fast wäre ich verblutet“, so Gaisreiter, der seine Karriere im Anschluss beendete. „Mein Olympiasieg war dann ein anderer“, sagt er lächelnd. Am Tag der Entscheidung im Viererbob wurde er zum zweiten Mal Vater, seine Tochter kam zur Welt.
Dem Bobsport ist er noch verbunden. Beim Bob- und Rodelclub Ohlstadt ist er technischer Leiter. Aktuell bemühe er sich um eine Frauen-Mannschaft und sei „dort auch optimistisch“. Ein Traum ist ihm trotz der manchmal bitteren Erfahrungen geblieben: Olympia. Seit Berchtesgaden 1992 war er stets Botschafter der gescheiterten Bewerbungen. Dass Winter-Olympia nach Süddeutschland kommt, „dafür will ich mich weiter einsetzen“, sagt Gaisreiter.