WM-TAGEBUCH

Wenn der Muezzin ruft und Ricky Martin schweigt

von Redaktion

VON GÜNTER KLEIN

Was haben die Veltins Arena in Gelsenkirchen und das Stadion Camp Nou in Barcelona gemeinsam? Beide beherbergen eine Kapelle – und das gilt als in Europa ziemlich einzigartig. Weil man Fußball und Religion nicht in einem Kontext sieht – außer wenn Fans im Abstiegskampf eine Kerze anzünden für ihren Verein. Oder der Trainer selbst. In Katar müsste über jedes WM-Stadion in einer Tonlage wie über Schalke und Barca berichtet werden, denn Gebetsräume gehören hier zur Grundeinrichtung. Auf jeder Ebene und auch im jeweiligen Pressezentrum sind sie ausgeschildert: „Prayer Rooms“, Gebetsräume. Nach Geschlechtern getrennt: male und female. Oft sind sie neben den entsprechenden Toiletten platziert, aber das soll nichts besagen. Sie sind klein, die Gebetsräume. Viereckig schlicht und mit einem Teppich ausgelegt. Bevor man hineingeht, zieht man die Schuhe aus. Doch gebetet wird nicht nur an den dafür vorgesehenen Stellen. Es sind viele muslimische Reporter und Fotofragen akkreditiert bei dieser WM, der ersten im Nahen Osten – und man sieht, wie sie für ihre Gebetsroutine aus der Hektik des Berufs ausscheren und dann mal auf einem Stück Rasen knien. Die Leute aus der westlichen Welt dämpfen dann mal ihre Stimmen oder halten die Klappe. Gut so. Das funktioniert alles konfliktfrei. Und wenn der Muezzin ruft, dann macht das auch die Atmosphäre dieser Weltmeisterschaft aus. Dass die Religion in Katar Vorfahrt hat, kann sogar angenehm sein: Auf dem Lusail Boulevard, einer der Treffpunkte, werden in Dauerschleife die FIFA-Hits gespielt. Nach dem dritten „The Cup of Life“ (Ricky Martin, Frankreich 1998) verstummte urplötzlich das Gedröhne. 18.14 Uhr, der Muezzin war dran. Eine Wohltat.

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