Ernst Middendorp, 64, hat bis zur WM an einem Pilotprojekt zur Talentförderung mitgewirkt. Bielefelds Jahrhunderttrainer gilt als Afrika-Experte und kann einschätzen, ob Marokko auch im Viertelfinale gegen Portugal Siegchancen hat.
Herr Middendorp, was imponiert Ihnen an der Mannschaft Marokkos?
Die Geschlossenheit des Teams, die immense Kompaktheit sowie die Leidenschaft, mit der alle, auch die Offensivspieler, bereit waren, gegen den Ball zu arbeiten. Und natürlich ragten einige Spielerpersönlichkeiten heraus.
An welche denken Sie?
Vor allem an Keeper Bono, nicht nur wegen der Elfmeterparaden. Auch die bekannten Namen wie der Ex-Dortmunder Achraf Hakimi, der populäre Amsterdamer Hakim Ziyech oder auch mir nicht so geläufige Akteure wie der allgegenwärtige Sechser Sofyan Amrabat oder Flügelmann Sofiane Boufal drehten auf. Und dann taucht da noch ein Nobody auf, der früher in der Bayernliga agiert hat und nun bei der WM die Großen ärgert: Abdelhamid Sabiri ist ein Beispiel dafür, wie die gute Ausbildung in Europa dem afrikanischen Fußball zugutekommt.
Ist Marokko die Nummer eins in Afrika?
Zweifellos. Senegal konnte das Handicap des Ausfalls eines Weltklassemannes wie Sadio Mané nicht verkraften. Tunesien und Kamerun vermochten es nicht, eine entscheidende Rolle in Katar zu übernehmen. Und Ghana ist für mich total daneben, absolut unterste Kategorie. Es ist nicht machbar, mit einem Teilzeit-Chef wie dem Dortmunder Otto Addo in ein Weltturnier zu starten.
Noch nie hat eine Mannschaft aus Afrika das Halbfinale erreicht. Schafft es Marokko?
Die Erfolgschance beziffere ich nicht so hoch. Wenngleich ich an ein Exempel im Weltfußball denken muss: an die EM 2004 in Portugal, als die Griechen den den Titel errangen. Irgendwie erinnern mich die Marokkaner an den damaligen Außenseiter mit Otto Rehhagel. Ihre Spielweise ähnelt der des damaligen des Sensationssiegers: Sicherheit zuerst, schnelles Umschalten mit hoher individueller Qualität und einer tollen Kontertaktik. Vor 20 Jahren dachten alle Experten lange Zeit auch: Jetzt ist Schluss, es geht nicht weiter. Doch das Ende ist bekannt.
Interview: Hans-Günter Klemm