Ar-Rayyan – Die Helden von Doha tanzten mit ihren Müttern und Kindern auf dem Rasen, in zahlreichen europäischen Städten fuhren Autokorsos unter Feuerwerken, und in der Heimat herrschte ohnehin der völlige Ausnahmezustand: Nach der historischen marokkanischen WM-Sensation sprudelten vielerorts die Glücksgefühle über. Endlos lange 92 Jahre hatte es gedauert, bis die schier unzähmbaren „Löwen vom Atlas“ als erstes afrikanisches Team unter die Top vier stürmten – und das soll noch nicht das Ende sein.
„Wenn eine afrikanische Mannschaft ins Halbfinale kommt, warum nicht auch ins Finale?“, frohlockte Trainer Walid Regragui nach dem so tapfer erkämpften 1:0 (1:0) gegen Cristiano Ronaldos Portugiesen: „Wir haben das Recht zu träumen. Es steht nirgends geschrieben, dass ein europäisches oder südamerikanisches Team die WM gewinnen muss!“
Am Mittwoch (20.00 Uhr MEZ) wartet im Halbfinale mit der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich der ultimative Gradmesser. Aber Angst? Nicht bei den Marokkanern! „Wir sehen uns bald, mein Freund“, schrieb der Ex-Dortmunder Achraf Hakimi seinem Pariser Klubkollegen Kylian Mbappe voller Vorfreude.
Helden sind Hakimi und seine Mitspieler schon jetzt. Und nicht nur in Marokko oder bei Marokkanern. Mit dem Sprung unter die besten vier Mannschaften habe die seinige einen ganzen Kontinent endgültig „auf der Landkarte des Fußballs“ verewigt, meinte Trainer Regragui.
Und tatsächlich: Die Begeisterung ist grenzenlos. „Es lebe Afrika“, schrieb der frühere Stürmerstar Didier Drogba. „Der ganze Kontinent unterstützt euch jetzt!“, twitterte der kamerunische Verbandspräsident Samuel Eto’o. Doch die Zuneigung reicht weit über Afrika hinaus. Auch in weiten Teilen der arabischen Welt und bei den zahlreichen in Europa lebenden Marokkanern herrscht pure Ekstase.
„Wenn du dir Rocky ansiehst, bist du für ihn, weil er derjenige ist, der von unten kommt“, erzählte Regragui: „Wir sind so etwas wie der Rocky dieser WM.“ Verbandspräsident Fouzi Lekjaa widmete die Geschichte des Emporkömmlings König Mohammed VI., der mit seiner „unerschütterlichen Unterstützung“ dem Team Kraft gebe.
Cristiano Ronaldo hatte hingegen keine Chance. Wie ein ganz normaler Mensch weinte Portugals gedemütigter Nationalheld, der irgendwann einmal die Tormaschine CR7 war, bitterlich. Auf seiner Flucht in die Katakomben wurde der gefallene Superstar von den über Wochen angestauten Emotionen übermannt. Zu schmerzvoll war der Gedanke, wohl niemals den goldenen WM-Pokal in Händen halten zu dürfen. Folgt nun gar der Rücktritt? „Leider ist der Traum (vom WM-Titel, Anm. d. Red.) gestern zu Ende gegangen“, sagte Ronaldo am Sonntag. Für die Zukunft müsse er seine „eigenen Schlüsse zu ziehen“.