Boris Beckers TV-Beichte

Zurück im Leben unter Scheinwerfern

von Redaktion

ULI KELLNER

Natürlich ist das eine kaum zu toppende Weihnachtsgeschichte am Ende eines von Krisen und Krieg geprägten Jahres: Tennislegende kommt aus dem Gefängnis frei, lange vor dem im Urteil festgelegten Haftende und kurz vor dem Fest der Liebe, das er nun daheim bei seinen Lieben verbringen darf. Geschmückte Stube statt kalte Zelle, Gans im Familienkreis statt Graubrot mit Knastgenossen. Jeder Regisseur würde verlacht werden, wenn er mit so einer kitschigen Storyline daherkäme . . .

Sat.1 dagegen griff dankbar zu – und durfte vier Tage vor dem Fest eine exklusive Story präsentieren, die quotenmäßig vermutlich nur knapp hinter dem Finale der Katar-WM lag. Interviewer Steven Gätjen saß einem Boris Becker gegenüber, der gezeichnet wirkte. Tiefe Ringe unter den Augen, müder Blick, bei Gesichts- und Haarfarbe wurde nachgeholfen. Hätte Becker drei Stunden lang in die Kamera geschwiegen – man hätte ihm trotzdem abgenommen, dass die Zeit im Knast härter war als jedes Tiebreak auf einem der Center Courts dieser Welt.

Angekündigt war ein Interview „ohne Ausreden, Tabus und Blabla“ – und Becker lieferte, gemäß der vertraglichen Vereinbarung. Schilderte das Leben als anonyme Nummer, erzählte von Bedrohungen durch die härtesten Schwerverbrecher Londons („Es ging ums nackte Überleben, jeden Tag“). Er berichtete, dass er erstmals in seinem Leben Hunger litt, fror, Panik vor dem Duschraum hatte – so glaubwürdig wie grausam. Die vom Sender erhofften Tränen lieferte Becker auch – als er schilderte, wie er beim Abschied zu Lebensgefährtin Lilian sagte: „Meine Liebe, du musst nicht auf mich warten . . .“

Tat sie aber, und damit ist die TV-Weihnachtsstory fast perfekt. Offen ist nur die Frage, wie ernst es Becker mit seiner Reue meint, mit seinem Versprechen, wieder der Mensch zu werden, „der ich einmal war“. Im besten Fall bedeutet das, dass er ab sofort ein Leben in Demut führt, dass er wirklich zu sich gefunden hat. Leichte Zweifel kamen auf, als der Promi-Häftling erzählte, dass er im Insolvenzprozess für 29 Punkte angeklagt wurde – „und ich 25 davon gewonnen habe“. Auch beklagte er, dass die Jury nicht gewusst habe, wer vor ihnen sitzt („Die Hälfte unter 30“). Es schimmerte nicht nur der Sportler Becker durch, sondern auch der Star Boris, der sich vermutlich nicht wunderte, im teuren Privatjet aus London ausgeflogen zu werden. Wie es mit ihm weitergeht? Man wird es erfahren, denn nur offiziell ist Becker jetzt ein freier Mann. Unfrei bleibt er, weil sein Leben ab sofort wieder wie eine Soap begleitet wird, nicht nur von Sat.1.

uli.kellner@ovb.net

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