München – Man rechnete schon während der Weltmeisterschaft damit, dass es geschehen würde. Zu düster klangen die Meldungen, die aus Brasilien vom sich verschlechternden Zustand der Fußball-Legende Pelé kündeten. Die Krebsbehandlung würde nicht mehr anschlagen, es gehe nur noch um das sanfte Hinübergleiten in den Tod. In Doha wirkten in den ersten Dezembertagen alle hilflos. „Wir beten für ihn, dass er sich schnell erholt und noch viele Jahre bei uns ist“, sagte der deutsche WM-Beobachter Jürgen Klinsmann, obwohl klar war, dass Pelé nicht mehr gesund werden würde. Vorsorglich wurden schon die würdigenden Worte für die bald fälligen Nachrufe gesprochen. „Er ist unbestritten der größte Spieler aller Zeiten“, sagte Klinsmann. Andere ehemalige Größen nickten bestätigend,
Das WM-Turnier hat Pelé noch überdauert, es mit Hilfe seiner Familie über einige Instagram-Beiträge begleitet. Doch am Donnerstag, dem drittletzten Tag des Jahres 2022, ist er gestorben. Er wurde 82 Jahre alt. Und trotz der in Katar erfolgten Krönung des Argentiniers Lionel Messi zum Weltmeister darf man sagen: Pelé ist der GOAT des Fußballs, der Größte aller Zeiten, eine Ikone wie in der Welt des Sports nur der Boxer Muhammad Ali eine war. Und Pelé war die erste globale Marke des Sports.
Der Rekord von Edson Arantes do Nascimento – früher konnte jeder den vollständigen Namen des Ballkünstlers aufsagen – blieb auch bei dieser WM bestehen: Er war ihr jüngster Torschütze, 17 Jahre alt 1958 in Schweden. Die Ärzte in Brasilien hatten von seiner Nominierung abgeraten, sie notierten: „Er ist zu jung, um Aggression zu fühlen bzw. mit angemessener Härte zu reagieren.“ Auch Garrincha, der geniale Dribbler, dessen Beine nicht gleich lang waren und der deswegen einen unrunden Gang hatte, erfüllte die genetischen Bedingungen nicht.
Tatsächlich wurden drei Monate vor der WM die Spieler zu Kardiologen, Neurologen und Zahnärzten geschickt. „Dahinter stand folgende Theorie: Wenn Brasiliens chronische Armut und Unterentwicklung uns gegen Uruguay den Titel gekostet hatte, so wollte sich das Team diesmal schon im Vorfeld von Spielern trennen, die diese Eigenschaften in sich trugen“, schrieb Pelé 2014 in seinem Buch „Warum Fußball?“
Er führte zurück in die Zeit nach Brasiliens Volkstrauma: Es war nicht gelungen, 1950 im eigenen Land Weltmeister zu werden, vor 200 000 Zuschauern im Stadion Maracana hatte man im entscheidenden Spiel gegen Uruguay versagt. Brasilien fühlte sich minderwertig, als „kränkelndes Land“, so Pelé. Die durchschnittliche Lebenserwartung betrug 46 Jahre, jeder Dritte hatte Hakenwürmer. Doch dann kam Pelé, auch Garrincha wurde nominiert – und auf einmal hatte Brasilien strahlende Helden. Das Wunderkind schoss die Selecao zur Weltmeisterschaft, 1962 wurde sie in Chile verteidigt. Pelé leitete schließlich auch den wirtschaftlichen Aufschwung seines Landes ein.
Er war ein kleiner Mann, 1,70 Meter groß. Er wirkte viel größer, wenn er seine Gegner narrte oder 1970 bei seinem letzten WM-Titel mit Brasilien zum Kopfball alle Gegner übersprang und in der Luft zu stehen schien. Für seinen FC Santos schoss er über 1000 Tore. Ins Ausland wechselte er erst nach seiner Glanzzeit, er gehörte in den späten 70er-Jahren zum All-Star-Projekt Cosmos New York, bei dem er mit Franz Beckenbauer zusammenfand, beide entwickelten sie den Fußball in den USA.
Das Ende seiner Ära überschnitt sich mit dem Beginn der Aufmerksamkeit für Diego Maradona. Ohne je gegeneinander gespielt zu haben, wurden sie zu Rivalen um das Vermächtnis, wer der genialste Spieler des Fußballs sei. Sie diskutierten beide selbst mit.
Dieser Tage kursierte ein Video in den sozialen Medien, das die Urheberschaft Pelés bei vielen heute immer noch herausragenden Bewegungen und Ballbehandlungen zeigt und beweist: Pelé war der Erfinder von allem Spektakulären.
Und er war der erste Spieler, der auch die werbende Branche faszinierte. Man erfand seine eigene Kaffeemarke, bei Tourneen in den 60er-Jahren mit dem FC Santos musste er stets mit einem 60 Kilo schweren Sack Kaffeebohnen auf dem Rücken einlaufen. Die Werbung sollte authentisch sein. Bei seiner Kommerzialisierung ließ er nichts aus, im 21. Jahrhundert lief er Reklame für Kreditkarten und Potenzpillen. Sein Gesicht war überall bekannt, man musste keinen Namen darunter schreiben. Pelé veränderte sich optisch kaum.
Anders als bei Diego Maradona lebte er ohne Abstürze und mit klarem moralischen Kompass. Er stellte sich gegen die Militärdiktatur, wollte verhindern – vor der WM 1970 –, dass die Selecao vereinnahmt würde von den Machthabern. Er thematisierte die Folterungen – etwa der späteren Staatspräsidentin Dilma Rousseff als 21-jähriger Studentin. „Sie hing mit dem Kopf nach unten von einem Metallstab, der an ihren Knien angebracht war, während Elektroschocks durch ihren Körper gejagt wurden.“ Er klagte an: „Das hört sich für uns nach Nazi-Deutschland an, nicht nach unserem geliebten Brasilien.“
Das Land wurde trotzdem immer schlimmer, 1992 erschoss die Militärpolizei 101 Insassen eines Gefängnisses, 1993 in einer Kirche schlafende obdachlose Kinder. Pelé konnte Brasilien kaum noch ertragen, er unterstützte die WM-Bewerbung der USA, die sich gegen Brasilien durchsetzte.
1994 setzte der Wandel in Brasilia ein: Demokratie, eine linke Regierung. Pelé wurde ihr Sportminister. Er bewirkte nicht viel in seinem Amt, doch egal: Er begleitete Brasilien in eine bessere Zeit.
„Ich glaube fest an Gott, und jede Botschaft der Liebe, die ich von euch aus der ganzen Welt erhalte, gibt mir neue Kraft“, mit diesen Worten meldete er sich vor drei Wochen aus der Klinik, nachdem diese verkündet hatte, er wurde nur noch palliativ behandelt.
Und als verrichte er einen letzten Dienst am Fußball, sammelte er seine Kräfte, um nicht die Weltmeisterschaft mit der Nachricht seines Todes zu überschatten.