München – Im Schnitt klingelte jeden zweiten Tag das Telefon. Am 16. Mai startete „Anlauf gegen Gewalt“, eine Initiative von „Athleten Deutschland“ für Kaderathleten, die Übergriffe erfahren mussten. Von Mitte Mai bis Ende Oktober haben sich bereits 93 Ratsuchende an die Anlaufstelle gewandt
In den vergangenen Jahren häuften sich Fälle von Sportlern, die in ihrer Karriere sexueller Gewalt ausgesetzt waren oder sind. Der Sportplatz, die Turnhalle oder die Schwimmhalle sind oft eben keine sicheren Orte. Und in den meisten Verbänden fehlt eine vertrauensvolle Struktur, die es Opfern sexuellen Missbrauchs ermöglicht, über das Erlebte zu berichten. In vielen der 93 Fällen wurde bereits vorher versucht, die wahrgenommene Gewalt in den institutionellen Strukturen des Leistungssports aufzudecken. Die Versuche scheiterten „nahezu ausnahmslos“.
„Anlauf gegen Gewalt“ soll den Sportlern eine erste psychosoziale Beratung bieten. 14,3 % der geschilderten Gewalterfahrungen liegen maximal zwölf Wochen, 27 % zwischen drei und zwölf Monaten und 41,3 % mehr als ein Jahr zurück. In 90 Prozent der Hilfegesuche wird von Gewalt gegenüber Frauen berichtet. „Die ganzen Fälle auf die paar Monate verteilt sind schon viel. Ich bin super froh, dass wir die Anlaufstelle geschaffen haben und Bewegung reinkommt“, sagt Karla Borger, Präsidentin von Athleten Deutschland, unserer Zeitung: „Das ist für mich ein Meilenstein.“
Borger führt aus, dass die Deutsche Sportjugend in dem Bereich schon viel gemacht habe. Auch in vielen Landessportverbänden gebe es schon gute Konzepte, „aber es besteht eindeutig noch sehr viel Nachholbedarf. Da gibt es einfach noch nicht überall die Strukturen, um solche Fälle aufzufangen.“
Dass „Anlauf gegen Gewalt“ wirkt, sieht man auch an dem Fall zweier Handballerinnen. Amelie Berger (23) und Mia Zschocke (24) von Borussia Dortmund hatten von psychischer Gewalt durch den Trainer André Fluhr berichtet. Mit juristischer Unterstützung von „Athleten Deutschland“ kündigten die Sportlerinnen ihre Verträge bei Dortmund, Fluhr wurde vom Verein freigestellt. „Das zeigt, dass es wirklich zu einer Veränderung kommt“, sagt Borger: „Sie sind es nicht nur für sich losgeworden, sondern hatten auch den Mut, es bis zum Ende durchzuziehen und Konsequenzen einzufordern.“
Die „Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs“ der Bundesregierung veröffentliche dieses Jahr ihre Studie zum Sport. Wissenschaftler untersuchten dabei die Fälle von 72 Betroffenen. Die Sportsoziologin Bettina Rulofs spricht in ihrer Analyse von „schwersten Menschenrechtsverletzungen“ und von einem „Bild des Sports, das viele so nicht wahrhaben möchten“. Nach Studien Rulofs haben im Spitzensport ein Drittel von 1800 befragten Leistungssportler eine Form sexualisierter Gewalt erlebt. Das Bundesinnenministerium will ein „Zentrum für Safe Sport“ errichten. Die Schaffung einer zentralen Einrichtung für sicheren und gewaltfreien Sport ist ein klarer Handlungsauftrag des Koalitionsvertrages, heißt es.
Der Sport und seine Strukturen müssen unter die Lupe genommen werden. „Diese romantisierende Erzählung des Sports, dass der Sport ausschließlich positiv ist für die gesundheitliche Entwicklung, für die Persönlichkeitsentwicklung, für das soziale Lernen von Menschen“, wird durch die Leidensgeschichten der Betroffenen zerstört, sagt Rulofs. N. M. SCHMITZ