Frankfurt/Main – Die Kontroverse um die mögliche Wiederzulassung russischer Sportler zu den Olympischen Spielen in Paris wird zur Zerreißprobe für den Weltsport. „Tun Sie das nicht, sonst verraten Sie den olympischen Geist“, rief der ukrainische Box-Weltmeister Wladimir Klitschko dem IOC-Chef Thomas Bach in einer Video-Botschaft zu. „Ich sage Ihnen: Die Russen sind heute Olympiasieger im Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung“, warnte Klitschko.
Auch Gunter Gebauer attackierte das Internationale Olympische Komitee und seinen deutschen Präsidenten für die Russland-Diplomatie. „Es ist wieder mal ein Kotau vor Russland“, sagte der Sportphilosoph. Die Strategie, die Bach und das IOC Exekutivkomitee verfolge, halte er für „viel zu weich und nachgiebig“ gegenüber dem Regime von Wladimir Putin.
Als eines der ersten Länder hat sich Estland strikt gegen das IOC-Vorhaben ausgesprochen, Athletinnen und Athleten aus Russland und Belarus trotz des Krieges in der Ukraine das Zurückkommen auf die internationale Sportbühne zu ermöglichen. Für Ministerpräsidentin Kaja Kallas ist es „nicht nur heuchlerisch und rückgratlos“, wie sie auf Facebook schrieb. Vielmehr wäre es „eine direkte Verhöhnung der Zehntausenden Ukrainer, die bei dem schlimmsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs erlebt hat, ihr Leben lassen mussten“.
Einen „Raum für Kompromisse“ sieht die Regierungschefin des EU- und Nato-Landes nicht. Sie forderte Regierungen und Parlamente aller Länder auf, die vollständige Isolierung russischer und belarussischer Athleten von internationalen Wettkämpfen zu unterstützen.
„Nach den Statuten der Olympischen Spiele kann das Nationale Olympische Komitee einer Krieg führenden Nation, insbesondere wenn es sich um einen Angriffskrieg handelt, nicht zu Olympischen Spielen eingeladen werden“, erklärte Experte Gebauer. Die vom IOC angestrebte Lösung sei typisch für IOC-Chef Bach. „Er taktiert und versucht, Russland nicht zu erzürnen“, sagte er. Bei den Winterspielen 2022 in Peking habe sich gezeigt, dass durch das Auftreten der Russen „die Neutralität überhaupt keinen Bestand“ habe. Das Argument des IOC, Sportler dürften nicht für ihre Nationalität bestraft werden, trifft laut Gebauer nicht zu: „Die meisten von ihnen werden staatlich gefördert und werden zu staatlicher Solidarität angehalten und zeigen sie auch.“
Andreas Michelmann, Präsident der deutschen Handballer und Sprecher der Spitzenverbände, teilt diese Beurteilung nicht. „Wir verurteilen ganz klar den Krieg Russlands gegen die Ukraine. Da gibt es auch keine Entschuldigung dafür“, unterstrich der 63-Jährige. Er sagte aber auch: „Ich bin dafür, die Athleten nicht für ihre Staaten zu bestrafen, sondern sie ihren Sport wieder ausüben zu lassen.“
Der deutsche Kanu-Weltverbandspräsident Thomas Konietzko will sich nicht vorbehaltlos dem Vorhaben des IOC anschließen. „Allerdings muss abschließend jeder Weltverband seine eigene Entscheidung treffen und wir werden bei unserer Entscheidung zuallererst die Auswirkungen auf unsere Wettkämpfe und unseren Verband berücksichtigen.“ Die Diskussion sei „ergebnisoffen“. Allerdings sei die Realität in seinem Weltverband, dass eine Mehrheit der nationalen Verbände – vor allem der Verbände aus Afrika, Amerika und Asien – gegen eine Suspendierung von Sportlern nur wegen ihrer Herkunft seien.
Schon am Freitag könnte aus dem Streit um eine Russland-Rückkehr eine Debatte um einen Boykott der Paris-Spiele werden. Das Nationale Olympische Komitee der Ukraine will auf einer einberufenen Generalversammlung darüber beraten, ob das Land im Falle einer Zulassung russischer Sportler nicht an den Sommerspielen teilnimmt. Darauf könnte eine Boykott-Welle anderer Länder aus Solidarität mit der Ukraine folgen. „Das kann passieren. Da muss man sehen, was die Diskussion hergibt“, sagte Handballfunktionär Michelmann.
Ein weiteres Problem für das IOC ist die Ausrichtung der Winterspiele generell. Bislang ist es nicht mehr als eine Idee, und das wird laut Thomas Bach auch noch eine Weile so bleiben. Doch wegen der immer stärker zu spürenden Folgen des Klimawandels könnte es laut Aussage des IOC-Präsidenten dazu kommen, dass die Olympischen Winterspiele nur noch zwischen einigen festen Gastgebern wechseln.
Es sei schon „eine der Überlegungen, dass man über ein gewisses Rotationssystem nachdenkt“, sagte Bach am Rande der Rodel-WM im thüringischen Oberhof. Gerüchte, wonach ein Kreis von fünf Ausrichtern geplant sei, wollte er nicht bestätigen.
Aber: „Wenn die Erderwärmung so fortschreitet“, sagte der IOC-Chef, stünden im Jahr 2050 „wahrscheinlich 50 bis 60 Prozent“ der für Winterspiele infrage kommenden Orte gar nicht mehr zur Verfügung. Und das sorgt für weitere Probleme. Durch die Abnahme der Kandidaten werden laut Bach „die vorhandenen schneesichereren Gebiete begehrter, weil nicht mehr so viele Auswahlmöglichkeiten bestehen für die Touristen“. Damit wachse „nicht unbedingt die Bereitschaft, bei diesem Andrang Zeiten zu reservieren für Olympische oder Paralympische Spiele über vier oder sechs Wochen“.
Auch das Thema Nachhaltigkeit wird immer wichtiger. Dass die Organisatoren von Mailand/Cortina d’Ampezzo 2026 die Renovierung einer uralten Bob- und Rodelbahn planen, gefällt Bach nicht. „Die IOC-Position ist: keine neuen Bob- und Rodelbahnen mehr. Und keine neuen Skisprungschanzen mehr“, stellte der 69-Jährige klar. Dabei war noch für die Spiele in Peking 2022 ein geschätzt 500 Millionen Dollar teurer Eiskanal in den Berg gebaut worden. „Wir haben das mitgetragen, weil sich mehr als 300 Millionen Chinesen dem Wintersport zuwenden wollen“, rechtfertige Bach den Schritt. Man habe dem Land die Bahn „nicht verweigern“ können: Es muss allerdings die Frage erlaubt sein, was dieser Kanal der Allgemeinheit bringen soll. dpa, sid