Frankfurt/Main – Beim Apfelkuchen-Backen mit den Enkeln und mit Yoga-Übungen im Weihnachtsurlaub hat Hansi Flick die schlimmsten Katar-Erinnerungen verarbeitet. Vor dem Neustart der Nationalmannschaft hat der Bundestrainer die große Hypothek des WM-Scheiterns aber noch nicht abgelegt. Die Schuldfrage für den Gruppen-K.o. umtreibt Flick weiterhin und eine große Lehre ist für den 58-Jährigen: Es muss wieder um Fußball gehen, nicht um Politik und Gesellschaftsthemen. „So viel Druck darf es nie mehr geben – weder auf einen einzelnen Spieler noch auf eine Mannschaft“, forderte Flick in einem Interview der „Süddeutschen Zeitung“ in Erinnerung an die Debatte um die One-Love-Kapitänsbinde.
Große Hoffnungen setzt er in den neuen DFB-Sportdirektor und Bierhoff-Nachfolger Rudi Völler – als Puffer gegen zu viel öffentlichen Wirbel. „Er sagt, was er denkt. Das finde ich gut, gerade im Unterschied zu mir. Ich taktiere manchmal zu viel. Ich habe manchmal das Gefühl, meine Worte sehr genau abwägen zu müssen und manche Gedanken lieber für mich zu behalten“, sagte Flick, für den die vielen Themen abseits des sportlichen Geschehens ein großer Malus beiben.
„Das war einfach nicht gut, und ich hoffe, dass wir aus dieser Situation lernen. Alle. Ich, aber auch die Politik und der Verband. Man hätte im Vorfeld klären können: Ist das Tragen erlaubt, oder ist es nicht erlaubt? So ein Thema muss vorher abgeräumt werden, das ist die klare Lehre aus dieser WM“, sagte Flick.
Wenn der Bundestrainer am Freitag seinen ersten Kader für das Länderspieljahr mit den Partien am 25. März in Mainz gegen Peru und drei Tage später in Köln gegen die andere WM-Enttäuschung Belgien benennt, will er einfach wieder Fußball-Trainer sein. Und die ersten Entscheidungen sind schon gefallen. Bewährte Kräfte bekommen eine Pause. Allen voran Thomas Müller (siehe unten). Routinier Ilkay Gündogan (32) von Manchester City wird dem Vernehmen nach zumindest im März nicht zum Aufgebot gehören.
Auch Kapitän Manuel Neuer (36) bekommt keinen Freifahrtschein. Nach dem noch ausstehenden Comeback nach seinem Beinbruch muss sich der Bayern-Schlussmann dem Konkurrenzdruck stellen. „Der Leistungsgedanke steht im Vordergrund. Es ist nichts in Stein gemeißelt – Manu weiß das“, sagte Flick. Von einer Rückkehr Neuers geht der Bundestrainer aber aus. „Ich bin überzeugt davon, dass er an seine Leistungsgrenze kommt, wenn er wieder zu hundert Prozent fit wird“, betonte Flick.
Was Vorgänger Joachim Löw im Frühjahr 2019 nach dem ersten WM-Desaster mit der Ausmusterung von Müller, Mats Hummels und Jérôme Boateng mit Getöse versuchte – nämlich jüngere Kräfte in die Verantwortung zu schieben – macht Flick nun mit einer Schontaktik. Klar ist: Jetzt muss die Generation um Joshua Kimmich (28), Leon Goretzka (28) und Antonio Rüdiger (30) endlich Führungs- und Leistungsstärke zeigen.
Besonders im Blick hat Flick auch Kai Havertz (23) vom FC Chelsea, dem er große Dinge zutraut – gerade auf der offensiven Müller-Position. „Kai ist ein genialer Fußballer, sehr reflektiert und in seiner Persönlichkeit sehr erwachsen. Unsere Aufgabe ist, dabei zu helfen, dass solche Spieler dann den nächsten Schritt machen und Verantwortung übernehmen“, sagte Flick. In Jamal Musiala (20) und Rückkehrer Florian Wirtz (19) sieht der DFB-Chefcoach zudem zwei große Trümpfe für die Zukunft.
Für baldige Titelträume sieht Flick jedoch noch keinen Anlass. „Ich gebe in dieser Phase nicht den Europameistertitel als Ziel aus. Dafür gibt es keine Garantie“, sagte er. Augenmaß in der Betrachtung der sportlichen Ambitionen sei ratsam. „Natürlich üben wir den Sport aus, um erfolgreich zu sein. Und ich habe grundsätzlich immer hohe Ziele. Aber ein bisschen Demut tut derzeit ganz gut. Wir müssen zunächst unsere Basisaufgaben erledigen“, forderte Flick. Eigene Fehler wollte er nicht verschweigen. Die defensive Spielweise habe er den Spielern nur „in der Theorie“ vermitteln können.
Zu seinem WM-Verarbeitungsprogramm gehörte die Suche nach innerer Einkehr. „Morgens in Ruhe Atemübungen zu machen, statt aufs Handy zu schauen – das kann ich nur empfehlen“, sagte der Bundestrainer, der sich auch eine neue Handynummer zulegte. dpa