München – Natürlich gibt es sie, die Momente, in denen Marcel Nguyen nicht weiterweiß. Er sitzt dann da und überlegt, sucht nach einer Lösung, holt sich gerne auch Hilfe. Das war früher, im Leben innerhalb der Turnhalle, nicht anders. Wer mehr als 30 Jahre Leistungssport in Knochen und Kopf hat, denkt lösungsorientiert, er will vorwärts kommen. Der einzige Unterschied zu den drei Jahrzehnten, die hinter Nguyen liegen, ist die Themenstellung. In seinem neuen Leben geht es nicht um den Tsukahara, den Kolman oder gar den eigens kreierten Nguyen. Sondern um Steuerrecht, Gewerbe und Personal.
„Ich habe lange überlegt, was ich machen will – und es sollte etwas anderes als Turnen sein“, sagt der 35-Jährige im Gespräch mit unserer Zeitung. Nguyen, zweifacher Silbermedaillengewinner der Olympischen Spiele von London, sitzt in seinem Büro in Obersendling, es ist ruhig um ihn herum, der Trubel herrscht abseits seines Schreibtisches. Dort, wo die Kunden seines Franchise-Unternehmens für dauerhafte Haarentfernung ein und aus gehen; das Angebot, das er als Geschäftsführer verantwortet, wird gut angenommen. Man hört durchaus Stolz in seiner Stimme, wenn er sagt: „Es ist eine Herausforderung, aber es macht mir Spaß.“ Und einen Satz hinterherschiebt, der mit Blick auf seine Geschichte von hoher Bedeutung ist. Er lautet: „Der Job hat mir geholfen, positiv nach vorne zu schauen.“
Das Alter 35 spielt da eine wichtige Rolle. Denn während Nguyen im Turnen schon seit Jahren als alter Hase gilt – und seine Weggefährten Philipp Boy und Fabian Hambüchen die Reckriemen lange an den Nagel gehängt haben –, steht ihm in normalen Leben noch alles offen. Als Außenstehender hat man sich schon manchmal gefragt, warum sich dieser so lange so erfolgreiche Unterhachinger die Plackerei an Barren, Reck und allen anderen Geräten noch immer antut. Seine letzte internationale Medaille liegt sieben Jahre zurück, und immer, wenn Nguyen sich nach einer schweren Verletzung (Knie, Schulter, Hand) zurückgekämpft hatte, folgte in den vergangenen Jahren der nächste Rückschlag. Sowohl die WM 2019 in Stuttgart als auch seine vierten Spiele 2021 in Tokio verpasste er. Und als sein Körper ihm auch noch verwehrte, bei den European Championchips in München einen würdigen Abschluss vor Fans, Freunden und Familie zu erleben, war es da, das tiefe Loch.
„Es war deprimierend und psychologisch schwierig“, sagt Nguyen über die Zeit, in der er merkte, dass es ein Leben ohne Magnesia-Geruch geben muss. Er hatte da die Bilder von Hambüchen im Kopf, dem bei den Olympischen Spielen 2016 in Peking zum krönenden Abschluss die lang ersehnte Gold-Übung am Reck gelungen war. Aber er hat inzwischen eingesehen, dass „nicht jedem ein Hambüchen-Moment gegönnt ist“. Ihm selbst hätte es schon gereicht, noch einmal ein internationales Podium zu betreten, sich und dem Rest der Welt zu beweisen, dass er es eigentlich immer noch besser kann als viele andere. Wenn er aber aus dem Trainingsalltag der letzten Jahre erzählt, kann man die Schmerzen, die er hatte, fast mitfühlen: „Ich war nicht mehr in der Halle und habe mich gefragt: Was steht auf dem Trainingsplan? Sondern nur: Was geht überhaupt?“
Es ging nicht mehr viel. 100 Prozent wollte Nguyen geben, „aber ich bin nicht mal mehr auf 90 gekommen“, sagt er. An guten Tagen waren es 80, an schlechten schränkte sein Handgelenk sogar den Alltag ein. Pausen, Kortison, Physio-Therapie, irgendwann fragt man sich: Wozu? Nguyen gibt die Antwort: „Ich hatte so viele Höhepunkt in meiner Karriere. Ich wollte das ordentlich beenden.“ Einen letzten Abgang stehen, noch einmal im Applaus baden – „und nicht verletzt abtreten.“
Aktuell fühlt Nguyen sich fit. Nichts, sagt er – bekleidet in Zivil-Klamotte, sitzend am Schreibtisch – tue ihm weh, zuletzt war er sogar Skifahren. Und trotzdem hat er eingesehen, dass die internationale Laufbahn vorbei ist. Mit einem Lächeln im Gesicht sagt er: „Ich blicke zurück auf tolle Leute, habe viel erlebt, bin rumgekommen und bin super dankbar für die schöne Zeit.“ Und ganz offiziell beginnt das Leben abseits der Turnhalle (abgesehen von Bundesliga-Einsätzen) heute. Auf einer Pressekonferenz im Rahmen des DTB-Pokals in Stuttgart wird Nguyen seinen Rücktritt erklären. Er ist bereit für die zweite Karriere.