München – Ein freies Zeitfenster zu finden, ist im Moment die größte Herausforderung für Kim Bui, denn die ehemalige Weltklasse-Turnerin ist sehr gefragt. Ihr Buch „45 Sekunden“ verkauft sich prächtig – und die gemeinsam mit Ex-Biathletin Miriam Neureuther gedrehte ARD-Dokumentation „Hungern für Gold“ hat große Wellen geschlagen. Bui, heute 34, hat so unter anderem ihre einstige Bulimie-Erkrankung öffentlich gemacht. Ein wichtiger Punkt im Interview über das System Spitzensport.
Frau Bui, seit Ihrem Karriereende haben Sie abseits der Turnhalle so viel erlebt wie in 34 Jahren zuvor nicht, oder?
Ja, aber auf eine ganz andere Art und Weise. Das Leben war lange sehr getaktet, strukturiert, das Turnen hat mein Leben geprägt. Im Moment ist gefühlt alles ohne Rahmen, aber superspannend für mich. Der „leere“ Raum hat sich schnell gefüllt.
Die große Reise war ein Anfang, die Doku und das Buch der nächste Schritt. Wann ist in Ihnen die Erkenntnis gereift, dass Sie den – teils auch unangenehmen – Blick hinter die Kulissen bieten wollen?
Heute sage ich: Ich habe schon viel verarbeitet und reflektiert, es war wichtig, das auch festzuhalten. Aber entstanden ist alles auf Initiative des Autors Andreas Matlé hin, schon bei den Olympischen Spielen 2021. Am Anfang wusste ich gar nicht, was er wollte, fragte mich: Was habe ich denn zu sagen? Im Gespräch habe ich aber festgestellt, dass ich schon sehr viel zu erzählen habe.
In welcher Rolle sehen Sie sich? Sie schreiben, Sie wollen kein Moralapostel sein, sondern helfen.
Und so ist es auch. Ich möchte auf Missstände aufmerksam machen, klar sagen, was nicht gut lief und läuft. Und ich möchte bewirken, dass man sich hinsetzt und daran arbeitet – also zur Selbstreflexion animieren. Ich bin ja der Meinung, dass wir in einer besseren Welt leben würden, wenn jeder sich selbst mehr hinterfragen würde. Es wird zu viel übereinander, aber zu wenig miteinander gesprochen. Und im System Spitzensport zählen dann auch noch am wenigsten die Athleten. Wir alle kommen viel zu wenig zu Wort – dabei sind wir die Aushängeschilder!
Mal direkt gefragt: Ist dem System zu helfen?
Ich hoffe doch – denn alles andere wäre einfach nur traurig. Aber ich glaube jetzt nicht, dass es schnell zu einer Veränderung kommen wird, nur weil ich das angesprochen habe. Bis Reformen in die Turnhalle kommen, ist es ein sehr weiter Weg. Mir fehlen auch der Blick nach vorne und innovative Ideen. Außerdem möchte ich schon auch betonen, dass ich nicht alles schlecht finde. Es hat sich schon einiges getan in den letzten Jahren.
Sie schreiben: „Turnen ist nur eine Randsportart“ – sie ist aber doch eine, in der Probleme von Individualsportarten wie unter einem Brennglas sichtbar werden, oder?
Das ist weit gedacht, aber ich würde die Aussage unterschreiben. Vor allem dieses Abhängigkeitsverhältnis vom Trainer hat man in Sportarten, die sehr jung sehr intensiv betrieben werden. Ich bin aber der Meinung, dass nicht alle Trainer sich bewusst sind, welche Auswirkungen ihr Verhalten, selbst kleine Gesten und wenige Worte, haben können. Für die Athletinnen und Athleten ist der Sport in dem Moment alles – ich habe knapp 30 Stunden pro Woche trainiert. Aber man muss sie doch trotzdem auf ein Leben vorbereiten, in dem der Sport nicht alles ist. Damit sie Freude und Spaß dran haben, das alles von sich aus wollen. Dass Disziplin dazugehört, steht trotzdem außer Frage.
Wer steht in der Pflicht, ein Umdenken einzuleiten?
Die Öffentlichkeit und die Verbände. Wir müssen die Trainer besser schulen, besser fortbilden – damit sie auch über den Tellerrand hinausschauen. Trainer sind in dem, was sie tun, das Nonplusultra. Aber sie müssen über die fachliche Expertise so viel mehr leisten. Da geht es um Psychologie. Ich bin zum Beispiel der Meinung, dass jeder Trainer ein Coaching absolvieren müsste. Wenn ich mein Ego, meinen Leistungsdruck auf den Athleten übertrage, kann das nicht laufen. Dann landet alles beim schwächsten Glied.
Kann ein Trainer – also eine Person – das alles leisten? Oder müsste man den Stab generell erweitern?
Da gibt es verschiedene Modelle. Unser Bundestrainer arbeitet mit einem Experten-Team. Das finde ich gut! Weil er einsieht, dass er alleine nicht alles können kann.
Hat der Aufschrei von Pauline Schäfer-Betz den Anstoß gegeben?
Marginal. Das war ein Aufschrei, aber es ging danach weiter wie vorher. Viele Trainer waren dazu nicht bereit und wurden dadurch sogar verunsichert. Eine nachhaltige Veränderung ist noch nicht spürbar.
Sagen Sie bewusst „noch“?
Ja! Weil ich die Hoffnung nicht aufgebe.
Sie wurden durch den Druck in die Bulimie getrieben. Sie schreiben darüber reflektiert – und haben sogar eine Doku mit Miriam Neureuther gedreht. Auch ihr wurde gesagt, sie solle abnehmen.
Das sind Sätze, die immer wieder fallen, in so vielen Sportarten. Und die wenigsten sind sich bewusst, was so ein kleiner Satz mit der Psyche der Sportlerinnen macht. Natürlich sind die einen standhafter als die anderen. Das ist beim Thema psychische Gewalt ähnlich: Jeder empfindet das anders, es ist nicht greifbar. Deshalb können die Leute auch so schwer beschreiben, was ihnen widerfährt. Damit haben sehr viele – auch aus meinem Turn-Kosmos – zu kämpfen.
Wird das Thema totgeschwiegen?
Man denkt als Aktive, es ist normal. Weil alle anderen es ja auch machen. Und genau das ist das Problem.
Die Szene mit Ihren Eltern, die Sie vor laufenden Kameras fragen, warum sie nicht eingeschritten sind, war besonders prägnant. Wollten Sie die Überforderung bewusst derart plakativ darstellen?
Meine Eltern waren zur damaligen Zeit überfordert und hilflos – und so geht es so vielen Eltern da draußen. Sie merkten, dass es für mich zu viel war, aber sie konnten nicht damit umgehen.
Gab es während dieser Phase Tage, an denen Sie hinschmeißen wollten?
Unterschiedlich. Ich kann mich auch nicht mehr so gut erinnern an die damaligen Zeiten. Weil ich einfach nur funktioniert habe. Und man sich schon auch dachte: Das gehört halt dazu, wenn man diesen Traum leben will. Wenn man die Selbstbestätigung haben will.
Sie schreiben auch von möglichen gesundheitlichen Folgen: Sind Sie gesund – oder merken Sie Langzeitschäden?
Zum Glück nicht. Ich fühle mich gesund, habe keine mir bekannten Probleme. Das war übrigens auch eine Resonanz aus der Doku und dem Buch: Die wenigsten wussten, welch fatale Folgen Essstörungen haben können. Das ist Raubbau am eigenen Körper! Ich hatte das Glück, dass eine Trainerin mir den Rat gab, mir Hilfe zu suchen. Besser wäre es, wenn es gar nicht so weit kommt…
Bei den Olympischen Spielen in London haben Sie vor Bundestrainerin Ulla Koch eine Nutella-Banane gegessen. Kam da der Rebell durch?
(lacht) Das kann man so sagen. So war ich schon auch zu aktiven Zeiten. Mal rebellisch, auch wenn ich immer versucht habe, diplomatisch zu sein. Was ich sagen kann: Die Banane hat hervorragend geschmeckt!
Wie ist der Ansatz des neuen Bundestrainers Gerben Wiersma – haben Sie hier Hoffnung?
Aus den Eindrücken, die ich von ihm gewonnen habe, schon. Ich möchte mal ein Beispiel geben.
Bitte!
Wenn eine Fußballmannschaft lange nicht gut spielt, wird der Trainer ausgewechselt – und oft gewinnt das Team im nächsten Spiel. Die Spieler sind dieselben, aber das Handling des Trainers ist anders. So war es auch bei uns. Manchmal braucht es neue Impulse! So hat er aus uns noch ein paar Prozent mehr rausgeholt.
Wie hat er das gemacht – mit einer anderen Ansprache, mehr Lockerheit?
Mit beidem. Er sagte zum Beispiel: Konzentriert euch auf das Team – und darauf, wie jeder Einzelne profitiert, wenn wir als Team erfolgreich sind. Das war schon ein Unterschied zu dem Leitsatz, der vorher galt.
Der da wäre?
Das Team ist nur so stark wie das schwächste Glied. Das hört sich doch viel negativer an. Genau wie Evaluierungsrunden, die auch mal im Kreis – also auf Augenhöhe – stattgefunden haben. Und nicht immer nur aufgestellt der Größe nach, mit Blick zum Trainer.
Sie prangern auch an, dass junge Mädchen „keine Persönlichkeit aufbauen können, mit Ecken und Kanten“. Sie sind gerade auf der Suche nach dieser Persönlichkeit. Wie weit sind Sie in diesem Prozess?
Definitiv schon deutlich weiter als bei meinem Karriereende – aber noch lange nicht am Ende. Ich habe eine Coaching-Ausbildung angefangen, ich möchte etwas bewegen! Ich möchte Menschen ermutigen, ihren Weg zu gehen, weil es für mich selbst schwer war, meinen Weg zu finden. Wenn ich meinen Teil dazu beitragen kann, dass wir in einer etwas besseren Welt leben, macht mich das sehr glücklich.
Auch eine bessere Welt im Turnen?
Ich bin da, wenn meine Expertise gewünscht ist.
Interview: Hanna Raif