München – Bill Stewart, der zur Fiesheit neigende (scheidende) Trainer der Adler Mannheim, musste dem Halbfinalsieger ERC Ingolstadt noch einen mitgeben. Er spendete dessen Torwart Kevin Reich ein Lob – das er durch den Nachsatz vergiftete: „Schade, dass er nach Iserlohn wechselt.“
Kevin Reich, 27, kann das weglächeln. Zwar ist sein Transfer noch nicht offiziell verkündet, doch innerhalb der Branche bekannt. Und was sollen ihn Stewarts Psycho-Spielchen jetzt noch stören, am Ende einer Saison, die Reich „die schwerste meiner Karriere“ nennt, die er aber zum Guten hat wenden können? Und überhaupt: Was sind die Turbulenzen des Sports, auch wenn er Beruf ist, gegen die des Lebens?
Für Kevin Reich war Eishockey nicht mehr so wichtig, weil es seinem Bruder Robin (23) schlecht ging. Robin ist seit seiner Geburt schwerbehindert, er hat das seltene Mowat-Willson-Syndrom, kann nur über einen Computer kommunizieren. Im Dezember 2022 stürzte Robin, das kommt bei dieser Krankheit oft vor; diesmal brach er sich das Genick. Lebensgefahr, Koma, Beatmung.
Kevin reiste zu Robin, der ERC Ingolstadt verzichtete ein paar Tage auf ihn, denn Reich war ohnehin nur der wenig eingesetzte Torwart Nummer zwei. Als er ins Team zurückkehrte und zwei Einsätze bekam, misslangen ihm diese, in Wolfsburg kassierte er neun Gegentore. „Mein Kopf war woanders“, sagte er. Bei den Fans, die die Hintergründe nicht kannten, war er unten durch. Aus Rücksicht auf seine Mutter hatte er die Leidensgeschichte der Familie vorerst für sich behalten.
Dann wurde sie doch bekannt, und die Reichs erfahren viel Hilfsbereitschaft. Auch in München wurde für die Behandlung von Robin Reich gesammelt. Mit dem EHC war Kevin von 2013 bis 2021 verbunden. Mit 17 debütierte er in der DEL. Zu früh, wie er einräumte, er fühlte sich überfordert: „Ich wusste gar nicht, was ich mit den viel älteren Mitspielern reden sollte.“ Er reifte in der Red-Bull-Akademie in Salzburg, in Junioren-Teams in Nordamerika und etablierte sich in München ab 2018 als Nummer zwei. 2021 schließlich der Wechsel nach Ingolstadt.
Als sich der Kanadier Michael Garteig im letzten Viertelfinalspiel am Knöchel verletzte, war Kevin Reich gefragt. Gegen Mannheim fing er in sechs Spielen nur neun Tore. „Ich bin mental wieder da, wo ich vor der Geschichte mit meinem Bruder war“, sagt er. „Ich will jetzt der ruhende Pol meiner Mannschaft sein.“ Er ist es. Er wird wohl auch in der Finalserie spielen, Kollege Garteig geht noch an Krücken.
Und ja: Er wechselt nach Iserlohn. In seine Heimatstadt. Die Roosters, der dortige DEL-Club, helfen dabei, für Familie Reich eine barrierefreie Wohnung zu bekommen. Dustin (21), der dritte Reich-Bruder, Verteidiger beim Drittligisten Krefelder EV, wird mit Eishockey aufhören und helfen, Robin zu pflegen. GÜNTER KLEIN