„Ein Hinspiel der Leiden“

von Redaktion

Milan-Fan Trinchieri über das Duell mit Inter, Rituale in der Stadt und rebellierende Kinder

Seine Liebe für den AC Mailand hat Andrea Trinchieri (54) von seinem Vater geerbt. Das Halbfinal-Hinspiel gegen Inter war für den emotionalen Coach der Bayern-Basketballer kaum auszuhalten. Vom heutigen Rückspiel (21 Uhr) wird der Italiener nicht viel sehen können, denn der FCB startet gegen Göttingen (20.30 Uhr) die BBL-Playoffs.

Sie tragen Schwarz, nicht Rot-Schwarz – das sagt viel.

Ohja, es ist eine Tragödie… Ein Hinspiel der Leiden… Wobei ich zugeben muss, dass ich es nicht wirklich gesehen habe. Das liegt an 2003… damals hatten wir schon einmal ein Halbfinale gegen Inter und ein Finale gegen Juventus. Dieser Monat war der größte Stress als Fußballfan in meinem ganzen Leben. Die ganze Stadt war wie paralysiert. Nein, ich habe Basketball geschaut, EuroLeague. Ich hatte das dumpfe Gefühl, dass dieses erste Spiel nicht leicht werden würde. Deswegen habe ich immer hin und her gezappt. Aber nach elf Minuten war klar – das ist nicht unser Tag.

Wie muss man sich die Abläufe in Mailand gerade vorstellen?

Wir haben in Mailand gewisse Rituale. Du trinkst deinen Kaffee immer im selben Lokal, du kaufst dein Brot immer am selben Platz. Und dort ist es ein Krieg. Der Barmann ist vielleicht vom anderen Team, neben dir trinkt einer Kaffee, der wieder vom anderen Team ist. Im Kaffee, im Supermarket… in der Tankstelle ist es am schlimmsten. Überall wird über nichts anderes geredet. Wenn du nichts mitkriegen willst – fahre zwei Wochen auf die Malediven.

Die Stadt München gilt eher als blau – wie sind die Kräfteverhältnisse in Mailand?

In vielen Städten hast du klare Verteilungen. In Belgrad ist die Hälfte der Stadt rot, die andere schwarz. In Athen gehört die Küste Piräus, der Norden Panathinaikos. Da geht niemand auf die jeweils andere Seite, da wirst du keine Spieler des Rivalen sehen, nie. In Mailand ist das anders. Du hast einen Wohnblock und siehst, rot, blau, rot, blau, rot, blau – und irgendwo in diesem Ozean von Rot und Blau ist Juventus. Aber die verstecken sich.

Gibt es Bevölkerungsgruppen, die typisch für einen der beiden Vereine sind?

Nein, das ist total gemischt. Du siehst auf beiden Seiten Anwälte, Polizisten, Metzger…

Wie ist es bei Ihnen? Woher kommt Ihr Milan-Herz?

Das habe ich geerbt, wie so vieles. Von meinem Vater. Durch ihn hatte ich eine Dauerkarte von meiner Geburt bis ich 25 war. Gemeinsam mit ihm habe ich alle Champions-League-Finals gesehen. Ich war hier in München gegen Olympique Marseille. Basile Boli… Bumm… arrivederci, grazie. Aber ich war auch in Athen, in Wien in Barcelona… an vielen Orten.

Was war ihr größter Milan-Moment. Das 4:0 gegen Johan Cruyffs Barcelona in Athen?

Nein, das war Milan gegen Steaua Bukarest 1989 in Barcelona. Auch ein 4:0. Da waren 85 000 Menschen aus Mailand im Stadion – auch weil Ceausescu niemanden aus Rumänien gelassen hat. Ich liebe Barcelona und die Stadt war in Mailänder Hand. Das wird es nie wieder geben.

Aber ihre Premiere war ein 0:0 gegen Bologna. Eigentlich ein Spiel, um die Liebe erkalten zu lassen.

(lacht) Ja, das war 1979, ich war elf Jahre alt. Aber am Ende haben wir den Titel gewonnen. Insofern war das schon ok.

Man hört, Sie hatten Dauerkarten für beide Lager…

Ja, und ich wollte natürlich wissen, warum. Da hat mir mein Vater gesagt: „Wir gehen zu Milan, um Milan siegen zu sehen. Und wir gehen zu Inter um Inter verlieren zu sehen. Das hat mir eingeleuchtet. Warum nicht?

Wie sehen es Ihre Kinder?

Ach, die wollen mit mir diskutieren. In den beiden ersten Jahren waren sie für Inter. Ich habe gesagt, ok, tut was ihr wollt, dann gibt es eben nur Brot und Wasser, altes Brot! (lacht). Dann habe ich sie schmoren lassen, bis sie schließlich angefangen haben, zu Papa zu kommen, von selbst: Juventus! Ok, es war eine kurze Phase mit Juve. Aber da haben sie dann auf der Terrasse geschlafen … im Winter.

Hart, aber fair … was lief am Anfang schief?

Sie wollten mir zeigen, dass sie selbst wählen können. Aber ernsthaft, ich versuche sie zu emotionaler Intelligenz zu erziehen. Sie sollen Entscheidungen treffen, hinter denen sie stehen können. Und da haben sie mit Inter experimentiert. Aber jetzt ist die Welt wieder in Ordnung in Corleone.

In Ihre eigene Hochphase fiel auch Trainer Arrigo Sacchi, der sehr wichtig für Sie gewesen sein soll.

Arrigo Sacchi war für jeden wichtig. Er war als Trainer ein Genie. Wobei man auch sagen muss: Eine Grenze zwischen total genial und total verrückt gibt es nicht. Da kommt es auf den Blickwinkel an. Er war der erste italienische Trainer, der sein Team aggressiv offensiv spielen lassen wollte. Wir kannten ja nur Catenaccio. Es gibt Leute, die sagen, weil wir so oft erobert worden sind, können wir nur verteidigen. Naja, und er hat es gewagt, an den italienischen Fußball heranzugehen. Sehr kritisch, Veränderungen sind kritisch. Aber er hat das gemacht. Hat seine Teams 90 Minuten attackieren lassen.

Wobei das große Milan-Team auch verteidigen konnte…

Klar, die Abwehrreihe damals war Tassotti, Baresi, Filippo Galli, Costacurta, Maldini… von rechts nach links. Das hat sich eingebrannt.

Der Erfolg des Sacchi-Systems spricht für sich.

Schon, aber in den ersten drei Monaten war er ein toter Mann. Denn seine Mannschaft hat es nicht hingekriegt. Und Spieler wie Franco Baresi, Superstars… man hat mir erzählt, dass er gekommen ist und diesen Spielern – die die besten der Welt waren – Videos von Parma gezeigt hat. So sollen sie spielen, hat er ihnen gesagt. Stellen Sie sich mal vor, man zeigte Beckenbauer ein Video von Hertha Berlin und sagt: Mach es so. Aber der Milan-Präsident hielt große Stücke auf ihn und hat ihn machen lassen – und damit unsere Geschichte geändert.

Allerdings auch dank eines Blocks niederländischer Spieler.

Ohja, das waren die besten der Welt. Ok, es gab Maradona, Pelé, Messi und andere. Aber Marco van Basten ist mein Lieblingsspieler aller Zeiten. Und trotzdem: Sacchi ist ein Genie.

Wie viel Sacchi ist in Ihnen?

Hmmm, ich bin manchmal unerbittlich, wie er. Ich halte an Dingen fest. Aber wir leben in einer anderen Zeit. Du kannst jetzt nicht genau der Gleiche sein.

Nach dem letzten Champions-League-Sieg 2007 ging es mit der großen Milan-Ära zu Ende…

Ja, ich werde nie den Abend in Athen vergessen, das Finale 1994. Milan hatte Barcelona 4:0 geschlagen. Es war ein wundervoller Abend, man hat den Parthenon prachtvoll gesehen. Und da sagte mein Vater auf dem Weg zum Essen: „Andrea, erinnere dich an diesen Tag, denn dunkle Zeiten werden kommen. Genieße es.“ Es ist ja auch so, alles hat ein Ende. So werden wir wahrscheinlich nie wieder spielen.

Sie glauben nicht an eine Renaissance des italienischen Fußballs?

Nein, das ist eine Momentaufnahme. Wir hatten eine gute Saison im letzten Jahr, aber wir können nicht die besten Spieler haben – damals hatten wir sie. Jetzt sind ein paar Sachen günstig zusammen gekommen. Liverpool zum Beispiel hat ein schlechtes Jahr. Und die Auslosung war günstig. Milan, Inter und Neapel waren im selben Zweig. Da war früh klar, dass eine italienische Mannschaft ins Finale kommen wird.

Glauben Sie noch an eine Chance im Rückspiel?

Ach, ich will keine Prognosen wagen. Das ist zu schmerzhaft.

Interview: Patrick Reichelt

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