Als wir Boris Herrmann am Telefon erreichen, steigt er gerade aufs Fahrrad. „Ich hoffe, der Wind ist nicht zu laut“, sagt der 41-Jährige. Der Wind, das wichtigste Element beim Segeln, wird auch ab Sonntag, wenn die fünfte Etappe des Ocean Race startet, eine große Rolle einnehmen. Aktuell liegt Skipper Herrmann mit seinem Team Malizia in der Gesamtwertung punktgleich mit 11th Hour und einen Zähler hinter Team Holcim auf Rang drei. In den nächsten Tagen warten viele Herausforderungen – darunter Wale.
Herr Herrmann, 5600 Kilometer und rund neun Tage Zeit auf See, was erwartet uns und Sie auf der relativ kurzen fünften Etappe?
Alles, das volle Programm. Wir können beim Start leichte Winde und flaches Wasser haben. Aber insgesamt erwarten wir raue Verhältnisse, das hat mit dem Golfstrom und dem Labradorstrom zu tun, der sehr kalt ist. Wir haben eine Eiszone, die ist bei Neufundland. Eine wilde Nordsee nördlich von Schottland. Und, und, und…
Zuletzt war Ihr Boot auch bei flauem Wind schneller als erwartet. Warum?
Es gibt schwache Erklärungen, wie zum Beispiel ein neues Vorsegel. Aber ich finde, man hat grundsätzlich einen falschen Eindruck gewonnen. Das Boot war nie schlecht bei geringem Wind, es wurde nur schlecht geredet. Das wurde mehr thematisiert als nötig. Irgendwann hatten das selbst unsere eigenen Segler im Kopf. Ich habe immer gesagt: „Leute, gebt dem Boot eine Chance, das wird schon passen.“ Da wurde mehr darüber gesprochen als nötig war.
Der erwartbare Wechsel der äußeren Verhältnisse. Wie schafft man es mental klaren Kopf zu bewahren?
Uns ist das bisher durch unsere gute Kameradschaft gelungen. Wir haben eine flache Hierarchie, viel Respekt voreinander und wollen nicht auf Biegen und Brechen gewinnen.
Wie oft muss man an Bord zwischen Risiko und Sicherheit abwägen?
Diese Abwägung ist der Kern unseres Sports, diese Frage stellt sich ständig. Man muss überlegen: Nehme ich eine Wetteroption wahr und fahre auf Risiko? Oder lieber nicht, weil ich mich dadurch von der Flotte entfernen müsste. In solchen Momenten kannst du alles gewinnen, aber auch alles verlieren. Da muss man sehr genau hinschauen.
Welcher Typ sind Sie?
Ich bin der vorsichtige, ängstliche und schüchterne Segler. Ich versuche vernünftig und defensiv das Ding erst mal ins Ziel zu fahren. Das hat sich bisher oft bewährt und war auch die Überraschung bei der Vendee Globe als ich zwei Drittel der Strecke ziemlich defensiv gefahren bin.
Bei der vergangenen Etappe waren Sie nicht an Bord. Gab es Kontakt mit ihrem Vertreter Will Harris?
Wir haben uns bei Whatsapp geschrieben, ich war also involviert. Aber ich berate in solchen Momenten nicht, das darf ich auch gar nicht. Wir dürfen uns über technische Dinge austauschen, aber nicht über sportlich-strategische.
Was ist eigentlich Ihr Fachgebiet als Skipper? Sind Sie Techniker? Geograf? Oder mehr Meteorologe?
Ich nehme die Vogelperspektive ein. Es gibt eine große Überschneidung zwischen Einhandsegler und Skipper. Es geht darum, alles zu überblicken, keine Fehler zu machen und das Risiko zu managen. Die Medienarbeit ist auch ein Teil der Rolle, die Vielseitigkeit macht Spaß.
Vogelperspektive klingt nach Himmel. Aber wie oft sind Sie überhaupt an Deck?
Fast gar nicht. Das Cockpit ist überdacht, von dort navigieren wir. Wir gehen für Kontrollgänge an Deck, um zu schauen, ob alles in Ordnung ist. Das geht aber nur, wenn das Boot langsamer ist. Bei voller Fahrt kann man oft gar nicht raus, weil es zu gefährlich ist. Im Schnitt, denke ich, werden wir auf dieser Etappe zweimal am Tag an Deck sein, auch um Segeln einzurollen und zu setzen – die klassische Segelarbeit. Im Süden sind es nur alle zwei Tage.
Das heißt: Sie halten nicht den Finger in die Luft, wenn Sie wissen wollen, wo der Wind herkommt?
Wenn es kaum Wind hat, schaut man tatsächlich in den Himmel, um ein bisschen etwas zu erhaschen. Wenn wir normal segeln, 20 Knoten (40 km/h), sind die digitalen Geräte deutlich schneller als das, was wir direkt sehen können. Das ist 95 Prozent der Zeit der Fall. Aus dem Fenster guckt man also nur selten.
Haben Sie auch wie früher Kartenmaterial dabei?
Je nach Regatta schreibt das Reglement so eine Karte vor. Bei der Vendee Globe zum Bespiel hatte ich eine riesige Weltkarte dabei. Bei diesem Rennen müsste schon sehr viel schiefgehen, dass wir so etwas brauchen.
Sie haben sich beim Kochen heftig den Fuß verbrannt, Kollegin Rosalin Kuiper ist beim Schlafen heftig aus der Koje geknallt. Steckt die Gefahr auch in den Alltagsdingen?
Man sagt ja auch sonst, die meisten Unfälle passieren im Alltag. Man stolpert zum Beispiel die Treppen hinunter. Das gilt für uns an Bord genauso, gerade weil die Erschöpfung noch dazukommt. Auf dieser Etappe kommt aber noch etwas anderes dazu: Wir müssen auf Meerestiere aufpassen. Es besteht die Gefahr, dass wir mit Walen kollidieren.
Von Frau Kuiper gibt es auch ein Bild, wie sie über einem Eimer sitzend ihre Toilette verrichtet, gleichzeitig aber auch das Ruder hält. Bei aller Begeisterung – verstehen Sie Leute, die sagen: die spinnen doch?
Ja, natürlich. Wir erwarten auch nicht, dass das irgendwer nachmachen will (lacht). Ich erlebe bei Begegnungen oft die Reaktion: „Ach, das wäre überhaupt nichts für mich.“ Ich verstehe, dass es für viele nicht attraktiv oder erstrebenswert ist. Aber andere regt es zum Träumen an. Das freut uns. Man kann das mit Astronauten auf der ISS vergleichen. Das, was wir machen, ist Elitesport und nur ganz wenige Menschen auf dieser Welt bekommen überhaupt die Chance, so ein Boot zu segeln.
Sie inspirieren in der Tat viele Menschen. Das hat Ihnen persönlich auch eine gewisse Popularität eingebracht. Wie gehen Sie damit um?
Bisher ist das eine sehr positive Popularität, vor allem in meiner Heimatstadt Hamburg. Oder auf der Autobahn.
Moment, was heißt auf der Autobahn? Kriegen Sie den Daumen nach oben, oder wir sollen wir uns das vorstellen?
Genau. Ich fahre oft ganz langsam rechts. Die Leute fahren dann die gleiche Geschwindigkeit neben mir und winken. Oder sie lassen im Stau oder an der Ampel das Fenster herunter und wünschen mir und dem Team viel Glück.
Apropos Ampel. Sie sollen Sekundenschlaf beherrschen, stimmt das?
Na ja, so ähnlich. Beim Einhandsegeln ist es oft wichtig, nur für zehn bis 15 Minuten Schlaf zu finden. Beim Ocean Race haben wir hingegen einen festen Wachrhythmus von vier Stunden. Dazwischen bleiben uns immer drei Stunden zum Schlafen. Oft bleibt es allerdings beim Versuch, wenn sich das Boot zu rau bewegt und hin und her geworfen wird.
Im Vergleich zur Vendee Globe sind das ja fast luxuriöse Schlafverhältnisse
(lacht). Genau, das kann man fast so sagen.
Wir müssen noch eine andere Sache abfragen. Auch Sie sollen nicht davor gefeit sein, seekrank zu werden…
Stimmt, das werde ich manchmal. Es passiert nicht vielen Profiseglern, aber scheinbar auch anderen. Wenn es nicht so schlimm ist, kann ich aber gut damit umgehen. Bisher wurde ich aber verschont, das letzte Mal hat es mich bei einer Trainingssession vergangenes Jahr in Frankreich erwischt.
Und wie ist es mit Luft anhalten, falls Sie ins Wasser fallen? Schaffen Segler da mehr?
Ins Wasser fallen ist vor allem im Südmeer, zum Beispiel in der Nacht bei, sagen wir sieben Grad Wassertemperatur, fast ein Todesurteil. Das müssen wir unbedingt vermeiden. Aus dem Grund sind wir an Deck auch mit Sicherheitsgurten angeleint. In der Ostsee in der Nähe des Zielortes Aarhus hingegen hätte man eine gute Chance, gerettet zu werden.
Wenn Sie in Aarhus ankommen, wie wird dann das Ranking aussehen. Rechnen Sie sich Chancen auf den Gesamtsieg aus?
Tja, es kann sein, dass es bis zum Ende offenbleibt. Wir hoffen, dass wir auf der kommenden Etappe Punkte einheimsen, die werden ja schließlich doppelt gewertet. Wir haben ein Boot, das bei rauen Bedingungen sehr schnell ist. Da hoffen wir schon auf ein gutes Ergebnis.
Interview: Mathias Müller