München – Vor exakt einem Jahrzehnt sah die Welt des FC Bayern anders aus als im Moment. Die Mannschaft war auf dem Weg nach London, das Finale der Champions League gegen Borussia Dortmund stand an – und der Ausgang ist bekannt: Am 25. Mai wurde im Wembley-Stadion Geschichte geschrieben. Das erste Triple der Vereinsgeschichte stand am Ende der Premieren-Saison von Matthias Sammer als Sportvorstand. Für das große Interview zum Jubiläum hat sich der 55-Jährige viel Zeit genommen. Ein Gespräch über frühere Zeiten – und Lehren für die Zukunft.
Herr Sammer, wie oft haben Sie sich das Endspiel von Wembley in den vergangenen zehn Jahren angesehen?
Nicht ein Mal. Ich habe immer mal wieder Sequenzen gesehen, mal die Tore, mal das Gegentor. Aber nie das ganze Spiel.
Geht Ihr Blick generell eher nach vorne?
Immer! Wobei ich einen Leitsatz habe: Es gibt keine richtig gute Zukunft ohne Vergangenheit. Die Vergangenheit ist ein Korrektiv, um mögliche Fehler für die Zukunft zu vermeiden. Ich bin ja jetzt auch schon einen Tag älter, da kommt es in der Diskussion manchmal so rüber, als sei man ein ewig Gestriger. Ich kontere dann: Ich lebe in der Analyse der Vergangenheit, um die Zukunft besser zu machen.
Gibt es für Sie eine besonders prägnante Szene aus diesem Endspiel?
Javi Martinez!
Nicht Arjen Robben?
Das Tor, na klar! Aber mir ist mindestens genauso ein Zweikampf von Javi Martinez nach etwa der Hälfte der ersten Halbzeit hängen geblieben. Die erste Halbzeit war schwierig für uns, da hat man gesehen, welche Last auf den Spielern lag. Philipp Lahm sagte später zu mir: „Ich habe in meinem Leben noch nie so schwere Beine gehabt wie in dieser Anfangsphase.“ Da ist mir dieser Zweikampf von Javi als Signal geblieben.
Als Zeichen ans Team?
Javi war – wie in vielen Finals – der Gamechanger. Diese Präsenz habe ich heute noch im Kopf. Er war der Erste, der gezeigt hat: Moment! So geht es in die falsche Richtung. Wir müssen uns wehren, dagegenstemmen! Mit seiner Wucht in den Zweikämpfen ist er mir als derjenige in Erinnerung geblieben, der das Blatt gewendet hat. Javi war unglaublich!
Karl-Heinz Rummenigge hat später zugegeben, in den Tagen vor dem Finale ein dauerhaftes Bauchgrummeln gehabt zu haben. Wie ging es Ihnen?
Für mich, mit meiner Geschichte, war es schon speziell gegen die Dortmunder. Obwohl ich aber elfeinhalb Jahre in Dortmund gespielt und gelebt habe, war mein Arbeitgeber der FC Bayern – und ich habe mich auf das fokussiert, was ich wusste: Wir haben einen super Trainer, gute Spieler, eine tolle Saison im Rücken, aber wir haben auch eine Geschichte. Philipp Lahm und Bastian Schweinsteiger waren bis zu diesem Zeitpunkt die sogenannte „Loser-Generation“. All das habe ich versucht, aufzunehmen, wahrzunehmen – und mich gefragt, was kann ich für das gute Gefühl tun, das das Team, aber auch jeder Einzelne braucht. Ich wollte Sicherheit geben, Selbstvertrauen. Jeden Tag, auch in den Tagen vor Wembley.
Waren Sie vom Weg vor dem Finale überzeugt?
Ich wusste nicht, ob wir dieses Finale gewinnen. Aber wir waren außergewöhnlich gut, hatten in dieser Saison bereits Unglaubliches geleistet. Wir durften einfach die Nerven nicht verlieren. Wir mussten uns auf die Qualität des Einzelnen und der Mannschaft fokussieren – so wurde es sehr wahrscheinlich, dass wir gewinnen. Wir waren super drauf! Trotzdem kann ich verstehen, dass Kalle (Rummenigge/d.Red.) Bauchgrummeln hatte. Denn der hatte die Niederlage im Jahr davor ja mitgemacht.
War das Ihr Vorteil – erst nach dem verlorenen „Finale dahoam“ verpflichtet worden zu sein?
Ein entscheidender sogar. Ich konnte ja von Anfang an anders an die Sache rangehen und wirken, weil ich nicht vorbelastet war. Nehmen wir als Beispiel Arjen Robben!
Gerne!
Da gab es nach dem Finale dahoam dieses Spiel FC Bayern gegen Holland, bei dem er ausgepfiffen wurde. Ich bin sofort zu ihm hin und habe gesagt: „Arjen, du bist ein super Spieler. Und solange ich da bin, wirst du meinen Schutz spüren. Ich werde jeden attackieren, der über dich irgendetwas Negatives sagt.“ So baut man eine Bande auf. Auf diese Art habe ich mich mit jedem beschäftigt, aber auch mit der Gruppe. Für den Trainer war das natürlich ungewohnt.
Weil Sie immer und überall waren.
Ich war omnipräsent – was ich gar nicht wollte (lacht). Aber ich musste mir alles ansehen, um es zu bewerten. Für Jupp Heynckes war das Neuland. Wir mussten schon manches Mal balancieren, damit alle ihre Größe behalten.
Wo wäre der FC Bayern heute, hätte er dieses Finale nicht gewonnen?
Da muss man weiter ausholen und elf Jahre zurückgehen. Auch wenn es traurig und schmerzhaft war, war es wichtig für den FC Bayern, 2012 zu verlieren – um dann alles in die richtigen Bahnen zu lenken. Die Ehre der Bayern war verletzt, das habe ich schon bei den ersten Gesprächen mit Uli (Hoeneß/d.Red.) gemerkt. Es herrschte eine große Unsicherheit, alle Stellen wurden hinterfragt. Für die Wahnsinnsentwicklung, die der FC Bayern danach und bis heute genommen hat, war der Sieg weniger wichtig als die Niederlage.
Weil man in der Krise alles richtig gemacht hat?
Sehr, sehr viel sehr, sehr richtig. Ich habe sofort gemerkt, wie sehr dieses Vize-Jahr Uli und Karl-Heinz (Rummenigge/d.Red) ins Mark getroffen hatte. Im Oktober oder November 2012 sagte Kalle bei einer Sitzung: „Wenn wir in dieser Saison nicht Meister werden, können wir alle nach Hause gehen.“ Ich war gerade drei Monate da – und sagte: „Karl-Heinz, ich habe den Verein verstanden, man muss hier gewinnen. Aber ich bin doch erst so kurz da (lacht).“
Das befreit nicht von der Titelpflicht.
So ist es. Und es ist ja auch die Stärke von Bayern München. Damals wurden Entscheidungen getroffen und vorgelebt, was jeder wusste: Es gibt keine Ausreden mehr! Jupp hat das als Trainer perfekt beeinflusst und moderiert, so ist das alles gewachsen. Am Ende war das Finale in London eigentlich nur ein Produkt dieser Entwicklung. Wir hätten das Finale ja auch verlieren können, aber das wäre nicht richtig gewesen. Diese Mannschaft hatte es sich verdient, Sieger zu sein.
Spürt man die Entstehung eines Triple-Geistes früh?
Zunächst ging es darum, Ruhe reinzubringen – und dann zu schauen: Wo liegen die Hebel, um die letzten Prozentpunkte rauszukitzeln? Es war wichtig, zum Trainer ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, ohne seine tägliche Arbeit zu beeinflussen. Ich wollte dieses Team spüren, das Hierarchische rausbilden. Es war daher sehr wichtig, Lahm, Schweinsteiger und Manuel Neuer als Gesichter dieses Vereins zu benennen. Als ich kam, waren die Gesichter Uli, Kalle, Arjen Robben und Franck Ribery. Zwei davon standen nicht mehr auf dem Platz – die zwei anderen waren Individualisten. Ich habe versucht, mit den neuen Säulen Vertrauen aufzubauen und ein Gefühl der Orientierung zu geben. So ist das Gebilde viel stärker zusammengewachsen.
Sogar Robben und Ribery wurden zu Teamplayern.
Das war der nächste Schritt (lacht). Wir haben gesagt: Jetzt passt alles, aber wir müssen noch Franck und Arjen einfangen. Im Training wurden taktisch einfache Defensiv-Übungen eingebaut, die beiden waren richtig gut. Jürgen Klopp sagte zu Recht: „Als die beiden angefangen haben zu verteidigen, haben wir realisiert: Es ist vorbei für uns.“ Jeder hat am Ende alles für diese Gruppe getan, obwohl es typbedingt große Unterschiede gab. Selbst Philipp und Basti, die privat wenig miteinander zu tun haben, haben mit einer Zunge gesprochen. Das war ein Geist, den erlebt man nicht noch mal.
Waren Sie von Beginn an überzeugt von Ihrem Ansatz?
Am Anfang war es nicht einfach. Am dritten, vierten Arbeitstag habe ich abends zu meiner Frau gesagt: „Ich glaube, das wird schwer.“ Sie fragte: „Warum?“ Ich sagte: „Also, so richtig gut reden die übereinander ja nicht.“ Dann sagte sie: „Dann ist es doch einfach.“ Ich: „Wieso?“ Sie: „Du kannst gut zusammenbringen. Versuche, es zu ordnen und es zu verbinden!“ Das habe ich versucht.
Waren Sie der Klebstoff?
Ein schönes Bild (lacht). Aber egal, wie man es nennt: Ich bin Bayern bis heute dankbar. Als ich dazukam, war ich zwar Sportvorstand, die Betonung lag aber auf „Sport“ und nicht auf „Manager“. Davon haben wir heute zu wenige, die jungen Trainern helfen. Viele glauben, dass die Management-Tätigkeiten wichtiger sind als die Nähe zur Mannschaft und zum Staff. Man darf aber nicht vergessen, dass man da heute an die 60 Leute täglich führt. Es gibt jeden Tag Konfliktpotenzial, das musst du lösen oder präventiv erkennen.
Ein Plädoyer für Sportdirektoren ohne Vorstandsverantwortung?
Wir haben zu viele Manager und zu wenig Sportdirektoren, die lenken und leiten. Ich wollte helfen, aber ich wusste, was ich kann – und was ich nicht kann. Ich habe gesagt: Lasst mir diese kleine Nische! Dass das gelungen ist, zeigen die Erfolge. Auch wenn es nicht messbar ist.
Haben Sie es so auch geschafft, zwischen Hoeneß und Rummenigge nicht erdrückt zu werden?
Die Stärke des Clubs war nicht Harmoniesucht, sondern die Konfrontation. Aber auch wenn es bei Uli und Kalle zur Sache ging, wenn richtig die Fetzen flogen, wusste man: Es geht um den FC Bayern, die wollen nur das Beste für ihren Club. Und wenn dann von außen irgendetwas in den Verein getragen wurde, war da eine Wagenburg-Mentalität. Das ist in meinen Augen das Geheimnis des Mia san mia. Für mich ist das die Form des Selbstbewusstseins, aber nicht in Verbindung zu bringen mit Harmonie. Wenn es in der Sache nicht stimmt, fetzen wir uns. Aber wenn es ins Match geht, sind wir eins. Das habe ich damals gut lernen dürfen.
Fehlt Ihnen das generell im deutschen Fußball?
Mir fehlen in unserer Nation in vielen Bereichen – und auch im Sport – Führungspersönlichkeiten. Wir mögen gute Leute haben, aber wir haben den Mut verloren, die Wahrheit zu benennen, weil sie manchmal auch unbequem ist. Es geht um den Hochleistungssport! Heute sagt man immer, der Trainer ist der wichtigste Mann im Verein. Aber das stimmt nicht. Er ist der wichtigste Mann für die Mannschaft, das Aushängeschild. Aber für mich geht es um den CEO in Verbindung mit dem Manager in Verbindung zum Finanzmann. Dazwischen sehe ich den Sportdirektor als Bindeglied. Die sind die Grundlage, damit ein Trainer mit einer guten Mannschaft arbeiten kann.
Sie haben gerne Ihre Meinung geteilt, auch Reibung gesucht.
Natürlich. Nach dem Bremen-Spiel, in dem ich die Spielweise unserer Mannschaft als „zu lätschern“ beschrieben habe, haben alle gedacht: Spinnt der? Aber Reibung erzeugt doch Energie. Die Besten müssen sich mit den Besten konfrontieren, um besser zu werden.
Interview: Hanna Raif und Manuel Bonke
Morgen in Teil 2: Sammer über die perfekte Mannschaft und die Bayern-Bosse Oliver Kahn und Hasan Salihamidzic.