München – Es war ein Friedenszeichen mit erneutem Alarmsignal. Beim glücklichen 3:3 gegen die Ukraine zeigte die deutsche Nationalmannschaft am Montag im Bremer Weserstadion zum wiederholten Male eine schwache Leistung. Erschreckend: Von den letzten neun Spielen hat das Team von Hansi Flick (58) nur drei Spiele gewonnen. Fast exakt ein Jahr vor der Heim-EM wächst der Druck auf den Bundestrainer. Die große Frage: Was ist nur mit der DFB-Auswahl los? Über seine Sicht der Dinge spricht Rekordnationalspieler Lothar Matthäus (62) im Interview.
Herr Matthäus, macht Ihnen der Auftritt der Nationalmannschaft Sorgen?
Jeder hat gesehen, dass die Leistung nicht berauschend war. Ich bin immer kritisch, weil ich auch von mir selbst immer das Bestmögliche verlangt habe. Aber ich nehme die Spieler in diesem Fall auch in Schutz.
Warum?
Man sollte immer motiviert sein. Aber die Saison war lange. Danach hatten die Spieler zwei Wochen Pause, wo sie ein bisschen runterfahren konnten. Für die Länderspiele mussten sie die Akkus wieder hochfahren. Zudem sind es Partien, in denen es um keine Punkte geht. Und dann kommen eben Spiele raus, die am Ende so laufen, wie sie laufen – vor allem, wenn es um nichts mehr geht. Das war schon zu meiner aktiven Zeit so. Hansi will zwar Vollgas. Er weiß allerdings auch, dass es in so einer Situation schwierig ist, Vollgas zu geben. Das ist menschlich. Aber eines ist auch klar: Der eine oder andere Fehler darf trotzdem nicht passieren.
Die Mannschaft wurde sogar teilweise vom Publikum ausgepfiffen.
Zu Recht. Das gehört auch dazu. Wenn wir früher schlecht gespielt haben, wurden wir auch ausgepfiffen. Aber immerhin ist es der Mannschaft trotz der Pfiffe gelungen, das Spiel in den letzten 20 Minuten so zu drehen, dass zumindest ein Unentschieden rausgekommen ist. Das größte Plus ist, dass die Mentalität stimmt. Ich glaube auch, dass die Spieler sehr kritisch mit sich selbst umgegangen sind nach dem Spiel am Montag.
Wie bewerten Sie die Experimente des Bundestrainers?
Hansi will einige Sachen ausprobieren. Gegen Peru und Belgien wurden wichtige Spieler bewusst nicht nominiert. Fraglich ist auch, ob man jetzt, wie im Fall Süle, Zeichen setzen und ob man die Dreierkette probieren muss. Ob das alles richtig oder falsch ist, kann man diskutieren. Bis zur EM hat die Mannschaft noch zehn bis zwölf Spiele. Bis dahin muss alles funktionieren.
Worauf würden Sie jetzt Wert legen?
Meine Mannschaft würde schon jetzt zu 70 bis 80 Prozent feststehen. Ich würde sie sich schon jetzt so einspielen lassen, wie es dann bei der EM aussehen könnte. Ich glaube nicht, dass gegen die Ukraine die erste Mannschaft gespielt hat. Denn dann müssten Musiala und Havertz dabei sein. Und ich würde ein System wählen, das auch zu meinen Spielern passt. Die meisten deutschen Verteidiger spielen in ihren Clubs in der Viererkette. Aber wie ich Hansi kenne, hat er einen genauen Plan. Er weiß, dass er ein Risiko eingeht.
Dafür wird er aktuell sehr kritisiert.
Er weiß, dass er kritisiert wird, wenn es nicht so läuft. Zu Recht. Aber er darf jetzt den Kopf nicht verlieren. Er muss stabil bleiben. Der Anfang gegen die Ukraine war nicht schlecht, auch gegen Belgien hat die Mannschaft Mentalität gezeigt und wurde mit Applaus verabschiedet. Aber es gab schon lange kein Spiel mehr, wo man über 90 Minuten gemerkt hätte, dass wir etwas nachlegen können. Hansi nimmt sich das natürlich zu Herzen, davon bin ich überzeugt.
Ist Flick noch der Richtige?
Wir müssen dem Trainer vertrauen. Ich vertraue Hansi, weil ich ihn kenne und er weiß, dass er das eine oder andere sehen will, bevor er sich für seine 28 Spieler entscheidet. Auch Rudi Völler steht voll hinter ihm.
Der DFB will bis zur EM im eigenen Land eine Euphorie entfachen. Wie soll das gelingen?
Wie gesagt, ich würde versuchen, die Mannschaft schon jetzt einspielen zu lassen. Und ich würde die Freundschaftsspiele bis zur EM in Deutschland stattfinden lassen. Amerika ist wunderbar, das ist eine schöne Reise. Aber warum man im Oktober unter der Saison Länderspiele in den USA spielen muss, verstehe ich nicht. Wenn die dann auch noch mitten in der Nacht deutscher Zeit stattfinden, wird hier auch keine Euphorie entstehen. Ich würde stattdessen alle Länderspiele in verschiedenen Städten in Deutschland austragen und dafür starke Gegner einladen.
Was erwarten Sie für die nächsten Länderspiele, die nun in den kommenden Tagen in Polen und gegen Kolumbien anstehen?
Wichtig sind Ergebnisse. Zauberfußball erwarte ich nicht. Obwohl die Qualität dafür in der Mannschaft stecken würde. Gündogan kommt vielleicht als Triple-Sieger und Leithammel zurück in die Mannschaft. Auch Musiala und Havertz werden eventuell von Anfang an spielen.
Interview: Philipp Kessler