Frankfurt/Berlin – Olaf Scholz lächelte mit einem bunten Ball in der Hand hinter dem silbernen EM-Pokal im Garten des Kanzleramtes, im 424 km Luftlinie entfernten Frankfurt verfolgte Hansi Flick das Training der Nationalmannschaft derweil mit ernster Miene. Trotz einer Jobgarantie von Rudi Völler zum Frühstück steht der Bundestrainer massiv unter Druck. Ein weiterer ernüchternder Auftritt am Freitag (20.45 Uhr/ARD) in Polen würde die angespannte Situation ein Jahr vor der Heim-EM weiter verschärfen.
„Ja, natürlich“, antwortete Völler in der Morningshow von Hit Radio FFH auf die Frage, ob Flick Bundestrainer bleiben werde. Doch auch beim DFB-Direktor werden die Sorgen größer. Der Weltmeister von 1990 nahm die schwächelnde Mannschaft vor den Spielen in Warschau und vier Tage später gegen Kolumbien in Gelsenkirchen in die Pflicht. „Um eine gute EM zu spielen und um unsere Fans mitzunehmen“, sagte Völler, „müssen wir jedes einzelne der noch verbleibenden Länderspiele genauso konsequent und vor allen Dingen so konzentriert angehen wie ein wichtiges Qualifikationsspiel.“
Das gelang der DFB-Auswahl unter Flick auch nach der verkorksten WM nicht. In den vergangenen neun Länderspielen gab es nur drei Siege – gegen den Oman, Costa Rica und Peru. Daher grübelt auch Turnierdirektor Philipp Lahm, obwohl am Mittwoch in den Gastgeberstädten „One Year To Go“-Events gefeiert wurden. „Wir brauchen eine starke Nationalmannschaft“, forderte Lahm. Es sei wichtig, dass sich eine Elf „findet, die das Land stark vertritt“.
Lahm stand im dunklen Anzug neben Scholz, Bundesinnenministerin Nancy Faeser und DFB-Präsident Bernd Neuendorf. Scholz hatte zum Ein-Jahres-Countdown ins Kanzleramt geladen. Er erhofft sich von der EM eine gesamtgesellschaftliche Aufbruchstimmung. Die Endrunde (14. Juni bis 14. Juli) sei ein „großer Moment“, sagte Scholz in Berlin: „Das ist ein Ereignis, auf das viele hinfiebern. Viele begreifen die EM als großes Fest in Europa. Wir fiebern mit, damit alles gut wird.“
Bei der Nationalmannschaft ist vieles schlecht. Das Experiment mit der Dreierkette scheiterte gegen die Ukraine in Bremen krachend (3:3). Zahlreiche Stars sind außer Form. Die Zweifel an der Mannschaft und an Flick wachsen. Die Kritik müsse man „ernst nehmen“, betonte Völler, „aber man darf es auch nicht überbewerten, das erfolgt auch aus einer gewissen Enttäuschung heraus“.
Doch damit sich der Stimmungsumschwung nach drei Turnier-Enttäuschungen endlich einstellt, muss der viermalige Weltmeister liefern und Flick endlich die richtige Taktik- und Personalauswahl treffen. Von Völler gibt es weiterhin viel Rückendeckung. „Hansi ist ein absoluter Toptrainer, der alles dafür tut, um die Begeisterung im nächsten Spiel zurückzuholen“, versicherte Völler. Flick mache sich jeden Tag Gedanken, was er besser machen könne – und das werde auch gelingen.
In Warschau vielleicht weiterhin ohne Timo Werner, der nach seiner Sprunggelenksverletzung auch am Mittwoch im Sonnenschein auf dem DFB-Campus nicht trainierte. Ilkay Gündogan und Robin Gosens fehlten nach dem Champions-League-Endspiel ebenfalls noch bei der Einheit. Ohne dieses Trio suchten einige Spieler um Kapitän Joshua Kimmich am Dienstagabend etwas Zerstreuung auf der Bowlingbahn – getreu dem Motto: Abräumen für die Stimmung.
Ein wenig EM-Luft schnupperten Flick, Emre Can und Kevin Trapp bei der Countdown-Veranstaltung am Mittwochnachmittag an der Frankfurter Hauptwache. Die Ablenkung tat gut, doch der Fokus liegt auf dem Spiel in Polen mit Torjäger Robert Lewandowski. „Alle sind Drucksituationen gewohnt. Ich spüre in der Mannschaft den Willen, dagegen anzukämpfen“, sagte Lukas Klostermann. Dies gilt es am Freitag auf dem Platz zu beweisen. sid