„Thomas Tuchel ist ein souveräner Leser“

von Redaktion

Der Fußball-Trainer und die Liebe zur Literatur – sein Buchhändler und Freund erzählt

Augsburg – Kurt Idrizovic ist ein Name im Augsburger Kulturbetrieb, er betreibt die „Buchhandlung am Obstmarkt“, im vorigen Jahr ausgezeichnet mit dem Preis als „Hervorragende Buchhandlung“. Einer der Schwerpunkte ist die Literatur des gebürtigen Augsburgers Bertolt Brecht. Ein treuer Kunde ist Fußballtrainer Thomas Tuchel. Der Coach des FC Bayern unterstützt Leseprojekte und ist seit vielen Jahren befreundet mit Idrizovic. Der Buchhändler: „Eine Freundschaft, die überdauert, auch wenn man sich nicht ständig sieht. Im Nomadenleben eines Trainers gibt es nicht so viele Freunde.“ Ein Gespräch mit Kurt Idrizovic über eine öffentlich nicht bekannte Seite von Thomas Tuchel.

Vor ein paar Jahren gab es von Alan Bennett den literarischen Überraschungserfolg „Die souveräne Leserin“. Inhalt: Die Queen gerät in einen öffentlichen Bücherbus und taucht ein in die Welt der schönen Literatur. Könnte man über Thomas Tuchel ein Buch mit dem Titel „Der souveräne Leser“ schreiben?

Thomas ist nicht der König, aber in seinem Beruf einer der Könige, und es gibt Parallelen zu diesem Buch: Er ist ein intensiver Leser mit einer großen Nähe zum Büchereiwesen und zur Leseförderung.

Wie haben Sie ihn kennengelernt?

Thomas war beim FC Augsburg Trainer der zweiten Mannschaft (ab 2005, d. Red.) und der Junioren. Ich ging auf den FCA zu und sagte: ,Wir müssen was für die Kinder machen.’ Thomas kam dann zu mir in den Laden, und wir haben uns sofort gut verstanden. Schon von der Idee her, Kindern das Lesen näher zu bringen. Es kam dazu, dass es Thomas nicht gefiel, dass junge Fußballer immer nur auf ihren Geräten daddelten, wenn sie auf Reisen waren und Zeit hatten. Er spürte auch einen erzieherischen Auftrag und meinte, es schade nicht, ihnen weltanschaulich etwas mitzugeben für das Leben nach dem Fußball. Er ist mit FCA-Spielern in die Schulen gegangen, um vorzulesen, hat selbst vorgelesen; ich habe den Tourneeplan erstellt. Wir haben das jahrelang gemacht, kleine Bibliotheken in den Schulen eingerichtet, sind Freunde geworden und geblieben. Und sein Lese- und Bildungsinteresse hat sich nicht geändert. Wenn ich sagte: Thomas, wir haben ein Projekt – und er hat geholfen, auch als er in Paris und London arbeitete. Er fragt nach wie vor: ,Wie läuft’s? Braucht ihr was?’ Das ist intrinsisch, das lebt er mit seinen eigenen Kindern. Er ist in einem Lese-Haushalt aufgewachsen.

Er ist nicht nur Ihr Freund und Kunde in der Buchhandlung, sondern auch Ihr Spieler in der Mannschaft „Brecht Boys“.

Die haben wir vor über 15 Jahren gegründet, eine Truppe aus Kulturschaffenden, Journalisten, Leuten aus der Literaturszene. Alles, was schon mal den Ball getreten hatte und nicht schnell weg war, haben wir eingebaut. Wir haben dann gegen die FCA-Geschäftsstelle gespielt, gegen das Theater. Da gab es legendäre Samstag- und Sonntagnachmittage. Der legendärste: Wir hatten in der Hammerschmiede (Augsburger Stadtteil, d. Red.) ein Spiel, sind danach am Fußballplatz einen Kaffee getrunken, der Thomas, Janos Radoki (Ex-Bundesligaspieler und früherer Zweitliga-Trainer) und ich – da geht die Gartentür auf, und es kommt einer mit Badeschlappen und kurzer Hose rein. Und Thomas sagt: ,Das ist ja der Bernd Schuster.’ Der war da Trainer bei Real Madrid. Es war gerade WM, er hat fürs spanische Fernsehen mitkommentiert, und dafür haben sie bei ihm im Nebenzimmer die Kamera für ihn aufgestellt. Thomas und Janos Radoki haben gestaunt, wie hemdsärmelig das alles läuft.

Wie war Tuchel als Fußballer?

Er war Sportinvalide und musste aufpassen. Aber man hat gemerkt: Da war was da. Er ist ja groß und hat einen Mordsbumms.

Wie ordnen Sie ihn als Leser ein?

Sehr interessiert an gesellschaftlichen Zusammenhängen, breit aufgestellt, fragt, wenn er zu mir kommt: Was gibt’s Neues, was muss man lesen? Nach seiner Zeit beim FC Augsburg war er ein Jahr arbeitslos, wir waren dann öfter zusammen bei Lesungen in München, bei Literaturveranstaltungen, in Augsburg im Theater bei Brecht-Stücken. Wenn er zu mir kam, hatte ich für ihn immer einen kleinen Stapel an Büchern zusammengestellt mit der Empfehlung, das und das mal anzuschauen – so wie es zwischen Buchhändler und Kunde eben ist. Er ist dann durchgegangen, was ihn interessieren könnte. Er mag aktuelle Literatur, Romane, Schwerpunkt Krimi, denn in Bus und Flugzeug muss was Spannendes her. Oder Bücher, in denen was von gesellschaftlichem Interesse verhandelt wird. Oft hat er Wochen nach meiner Empfehlung eine Rückmeldung gegeben, ob es ihm gepasst hat.

Was geht, was geht nicht?

Was zum Beispiel für ihn interessant ist: eine Interviewsammlung des FAZ-Redakteurs Timo Frasch, Gespräche mit Schriftstellern, Schauspielern oder Kabarettisten wie Harald Schmidt, der Titel lautet: ,Sie stellen mir Fragen, die ich mir nie gestellt habe’ – ganz stark. Was bei Thomas gar nicht ginge und ich ihm noch nie verkauft habe: ein Fußballbuch. Geschenkt habe ich ihm eine dieses Frühjahr erschienene Auswahl an Brecht-Gedichten und zu Thomas gesagt: ,Da findest du alles, was du brauchst.’ Brecht hat alles überdauert und ist politisch aktuell. Mit Thomas kann man über so etwas reden.

Das gehypte Buch des Jahres ist Benjamin von Stuckrad-Barres Schlüsselroman „Noch wach?“ Würden Sie dieses Buch Thomas Tuchel empfehlen?

Für mich ist es interessant aufgrund meiner Affinität zum Mediengeschehen und meiner Neugier; man blickt in die Küchen der Redaktionen. In zehn Jahren wird das Buch eine gute Dokumentation der wilden Zeit der Digitalisierung sein und erklären, wie Nachrichten und Fake News entstehen. Es ist das Fiebermessen einer Gesellschaft. Aber Thomas würde ich den Roman nicht empfehlen. Er kennt die Medienmaschine, ist Teil von ihr – das Buch würde ihn langweilen. Man muss ja auch die Zeit haben und sich konzentrieren können. Thomas hat außerdem Nebenschauplätze, das sehe ich ihm an – und da liest er dann gar nichts mehr. Ich war beim Pokalspiel der Bayern gegen Dortmund in München, es war sein zweites Spiel – und da klang seine Einschätzung, als wir uns hinterher getroffen haben, schon sehr ernüchtert. Da wusste er, was für eine große Aufgabe vor ihm liegt.

Jetzt ist Sommerpause. Was wäre guter Lesestoff für Tuchel?

Da gibt’s gerade eine Wiederentdeckung: Gentleman über Bord, geschrieben in den 30er-Jahren von Herbert Clyde Lewis. Die Geschichte eines Börsenmaklers, der eine Auszeit braucht, auf ein Kreuzfahrtschiff geht und durch einen saudummen Zufall vor dem Frühstück ins Meer stürzt. Hier der Mann, hochintellektuell, strukturiert, liegt im Wasser und überlegt: ,Was mache ich jetzt? Merken die auf dem Schiff, dass ich weg bin?’ Drei Tage reflektiert er sein Leben, und wir sind dabei. Und gleichzeitig geht es darum: Was passiert auf dem Schiff? Großartig. Das werde ich ihm nahelegen. Thomas hat sein Kommen angekündigt, und ich bin vorbereitet: Es gibt außerdem den neuen Martin Suter, den neuen Robert Seethaler, große, anspruchsvolle Unterhaltung, und ein paar gute Franzosen.

Leuten aus dem Fußball scheint man die Beschäftigung mit Literatur nicht zuzutrauen. Thomas Hitzlsperger sagt, er fiel den Medien als junger Spieler dadurch aus, dass er auch mal ein Buch las, Andreas Beck, der für Stuttgart und Hoffenheim spielte, war einer der wenigen in diese Richtung interessierten Kicker. Und Oliver Bierhoff seufzte als Manager der Nationalmannschaft, dass die von ihm initiierte Bücherkette bei Per Mertesacker endete.

Mir fällt Jürgen Klinsmann ein, der als Trainer beim FC Bayern eine Bibliothek einrichtete. Als Buchhändler habe ich das interessiert registriert. Doch er ist auf höchstem Niveau gescheitert, die Nachfolger haben das gleich rausreißen lassen. Man muss lange suchen, um die Nähe von Fußballern zur Literatur zu finden. Thomas und Arno Michels, sein Assistent, sind da die seltenen Ausnahmen. Pep Guardiola interessiert sich für katalanische Lyrik, hat da das Projekt eines Verlags unterstützt, aber natürlich wird da auch ein kleines literarisches Image gepflegt.

Wie bei der Verbindung von Bastian Schweinsteiger mit Martin Suter, die in dem Werk „Einer von euch“ endete,

Ganz schlimm, furchtbar. Hat allen drei Protagonisten geschadet: Diogenes-Verlag, Schweinsteiger, Suter. Ich weiß nicht, was die für ein Zielpublikum hatten. Da wurden einfach prominente Namen genommen. Und sie haben alles falsch gemacht, was man falsch machen kann. Unfassbar auch, mit welcher Bildsprache gearbeitet wird. Ich habe mal versucht, auf einer Veranstaltung die Pose von Schweinsteiger auf dem Titel nachzustellen. Was ist das für eine unnatürliche Pose, was drückt sie aus?

Oliver Kahn tauschte sich mit dem brasilianischen Star-Schriftsteller Paolo Coelho aus.

Sie liegen zunächst weit auseinander. Aber in Südamerika ist der literarische Zugang zum Fußball ein anderer. Man nimmt Fußball dort auch als links oder als philosophisch wahr.

Bei uns gibt es mittlerweile eine Flut an Fußballbüchern, aber kaum Belletristik. Ausnahmen sind der englische Klassiker „Fever Pitch“ von Nick Hornby und „Nicht wie ihr“ des Österreichers Tonio chachinger, das 2019 auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis stand und in die Lebenswelt eines Starspielers führt.

Der Fußball ist ein großes Medienkarussell, und die Literatur will da ein bisschen mitmischen. Doch es gibt hier kein Zielpublikum. Der normale Intellektuelle schaut zwar Fußball, er ist ihm aber zu profan. Und den Fußballer selber interessieren Bücher über Fußball auch nicht. Wir haben aber einen Klassiker der deutschen Fußball-Literatur: Eckhard Henscheid, der die Rhetorik rund um den Fußball beleuchtet. Das ist Jahrzehnte her, aber immer noch großartig.

Wenn Sportler dann doch mal was lesen, sind es Biografien – etwa über Tennisstar Andre Agassi oder Apple-Gründen Steve Jobs.

Also über Erfolgsmenschen. Diese Bücher haben den Vorteil, dass man sie anfangen und wieder weglegen kann. Ich verstehe das schon: Eine Sportlerkarriere ist ein kurzes Leben, eng getaktet. Und es ist ja auch bei Thomas Tuchel so: Lesen ist Teil seiner geistigen Beschäftigung – aber manchmal mehr, manchmal weniger.

Wäre Tuchel als Autor denkbar?

Verlage versuchen, an der Prominenz von Leuten zu kratzen. Über mich hat mal ein Verleger bei ihm angefragt, als er noch Trainer in Mainz war, und die beiden haben sich dann auch getroffen. Die Idee des Verlegers war ein Band von Essays über Tugenden, die Thomas wichtig sind wie Ehrlichkeit – aber es scheiterte an der Zeit.

Interview: Günter Klein

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