„Unser Fußball ist langweiliges Verschieben“

von Redaktion

Paul Breitner über mangelnde Klasse der Nationalspieler und Joshua Kimmich als rotes Tuch

München – Nach den desolaten Auftritten der Nationalmannschaft macht sich Welt- und Europameister Paul Breitner (71) nicht nur Sorgen um das Team von Bundestrainer Hansi Flick, sondern um den deutschen Fußball in seiner Gesamtheit. Weshalb, verrät er im Interview.

Herr Breitner, hat Sie die Nationalmannschaft überrascht oder schockiert?

Mich überrascht nur, dass der aktuelle Zustand der Nationalmannschaft, der sich ja schon in Katar abgezeichnet hat und der nun bestätigt wurde, nicht früher ernst genommen wurde.

Inwiefern?

Alle, die jetzt auf die Nationalmannschaft einprügeln, haben anscheinend geglaubt: Im nächsten Spiel wird es besser, im übernächsten Spiel wird es besser. Kaum jemand hat schon nach der Weltmeisterschaft gesagt: Diese Mannschaft ist einfach nicht besser als das, was sie seit Katar bringt. Wir haben eine Delle in der Qualität der Nationalspieler.

Was sind die Gründe hierfür?

Es ist eine Situation, in der wir feststellen müssen, dass die Nationalmannschaft von zwei Faktoren abhängig ist: Einerseits deutsche Spitzenclubs in der Bundesliga und in der Champions League. So gut wie diese Teams sind – allen voran der FC Bayern –, so gut ist unsere Nationalmannschaft. Der andere Grund: Es sagt niemand ehrlich: Es kommen noch nicht die Jahrgänge nach, die eine Nationalmannschaft bilden können, die absolute Spitze ist. Das ist Fakt! Ich kann von einigen Nationalspielern nicht mehr verlangen, als das, was sie im Moment zeigen.

Welche Rolle spielt die Bundesliga im Niedergang der Nationalmannschaft?

Wir müssen leider feststellen, dass die Qualität der Bundesliga in den vergangenen Jahren schlechter geworden ist. Dazu kommt ein Fußball, den wir bereits über mehrere Jahre hinweg praktizieren, der bereits im Bambini-Bereich gespielt wird – und für den ich nicht mehr viel Verständnis habe.

Wie sieht der aus?

Wir haben in Deutschland einen Fußball, der langweilig ist und davon lebt, dass die Bälle hin und her geschoben werden, Verantwortung abgegeben wird und dass in manchen Spielen der Torwart die meisten Ballkontakte hat. Weil sich gerade im Abwehrbereich keiner mehr traut, einen riskanten Ball zu spielen oder ins Dribbling zu gehen. Da wird von rechts nach links „verschoben“, wie man es großkotzig nennt. Im Grunde wird damit aber nur die Verantwortung abgegeben.

Es fängt im Jugendbereich an?

Ja! Wenn ich mal ein F-, E- oder D-Jugend-Spiel anschaue, dann heißt es immer: Verschieben, verschieben, verschieben – da kriege ich einen Vogel! Wir müssen wieder dort hinkommen, wo die Balance zwischen Kraft und Technik früher lag: 50/50. Das hat den deutschen Fußball bestimmt!

Und jetzt?

Wir brauchen wieder eine Balance zwischen 50 Prozent Freiheit und 50 Prozent Verantwortung. Wir müssen den Kindern endlich wieder Dribbeln lernen, ins Risiko zu gehen, Fehler zu machen – und nicht nur schauen, wo fünf Meter neben mir jemand für einen Sicherheitsball steht, wenn mal jemand auf mich zukommt. Und der Trainer steht dann draußen und sagt: Super gemacht!

Und das beobachten Sie auch in der Bundesliga?

Wenn wir früher die Spiele in der Bundesliga angeschaut haben, dann war da One-Touch-Fußball, Tiki-Taka. Mittlerweile ist es einschläfernd, langweilig und für jeden Gegner ausrechnend. Jeder weiß, was der Gegenspieler plant. Weil alle auf Sicherheit getrimmt sind und daher auch übersehen, wenn sich Möglichkeiten nach vorne auftun. Es ist alles so komisch, es ist alles so langweilig. Wissen Sie, welches Verhaltensmuster zu diesem Einheitsbrei passt?

Welches?

Fast jeder, der eine Ecke oder einen Freistoß schießt, hebt den Arm. Effektiv kriege ich auch da jedes Mal einen Vogel, wenn es eine Standardsituation gibt. Dann sage ich: Junge, am besten hebst du zur Abwechslung jetzt mal wieder den Arm. Wozu?! Das war vor 25 Jahren mal eine Idee – und aus diesen uralten Bundesliga-Zeiten stammt sie. Damals kam irgendein Trainer auf die Idee zu sagen: Pass auf, wir machen es jetzt so: Rechter Arm oben beim Eckball, kurzer Pfosten. Linker Arm oben, langer Pfosten. Mittlerweile hebt jeder immer den Arm. Der Chef im Armheben ist aber Joshua Kimmich und mittlerweile für mich ein rotes Tuch, wenn er einen Eckball schießt. Aber auch der Herr Gündogan hat das gegen Kolumbien getan. Ich warte ja nur noch drauf, dass der Torwart beim Abstoß den Arm hebt.

Die Entwicklungskurve der Nationalmannschaft zeigt unter Hansi Flick als Bundestrainer klar nach unten.

Was ich bei Hansi Flick nicht verstehe: Wenn ich erkennen muss, dass ich nicht die Menge an Individualisten, Top-Einzelkämpfern und herausragenden Spielern habe, die ein Spiel nach Belieben bestimmen und entscheiden können, dann muss ich so früh wie möglich anfangen, eine Mannschaft zu formen. Ein Team aus einem Fünfzehner-Paket, das nach dem fünften, sechsten Länderspiel weiß, wo der Hase läuft: Wer steht wo? Wer bewegt sich wie? Ich muss über die Sicherheit und das Einspielen an Qualität gewinnen. Dann kann ich als Bundestrainer nicht sagen: Ich muss jetzt testen, testen, testen. Warum probiere ich 20 Spieler aus, von denen ich genau weiß, dass sie niemals in der Startelf des EM-Auftaktspiels stehen werden? Das ist verlorene Zeit! Ich verstehe es nicht! Den Vorwurf musste sich der Bundestrainer bereits nach dem Aus in Katar anhören. Das ist genau das Problem, das sich seit dem ersten Vorrundenspiel in Katar bis zum 0:2 gegen Kolumbien wie ein roter Faden durch die Amtszeit von Hansi Flick zieht. Das geht nicht! Experimente? Wunderbar! Das geht, wenn ich acht oder neun Stammspieler habe, dann kann ich punktuell jemandem eine Chance geben: Was bringt er, wenn er sich in einer Top-Mannschaft befindet? Ist er gleich zehn oder 20 Prozent besser? Da kann ich testen, da kann ich in jeder Partie ein oder zwei Spieler ausprobieren. Aber ständig immer irgendetwas Neues machen: Erst Dreierkette, dann Viererkette und weiß der Teufel was, wie und wo – nein!

Interview: Manuel Bonke

Morgen: Breitner verrät, was er von Flick erwartet.

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