„Da bekommt jeder das Flattern“

von Redaktion

Paul Breitner über die Unsicherheit der deutschen Nationalmannschaft und Freiheit im Spiel

München – Krise bei der deutschen Nationalmannschaft. Im Interview spricht Paul Breitner (71) über fehlende Qualität und fordert ein Ende der Experimente.

Rudi Völler hat nach der Pleite gegen Kolumbien öffentlich eingestanden, dass Deutschland nicht die gewünschte Qualität hat. Kommt diese Erkenntnis zu spät?

Ich habe es mit Genugtuung vernommen. Weil ich mir gedacht habe: Endlich einer, der endlich mal das größte Manko anspricht, das unsere Nationalmannschaft und unseren Fußball seit ein paar Jahren prägt.

Wenn die Qualität nicht vorhanden ist, könnte man es ja wenigstens mit Mentalität ausgleichen.

Nein, nein, nein! So eine Aussage akzeptiere ich nicht. Ich bin nach wie vor überzeugt, dass jeder will. Egal wie der Gegner heißt. Nur: Jetzt zu debütieren oder in diese Mannschaft reingeworfen zu werden, damit tut man niemandem einen Gefallen. Weil jeder ins Spiel geht und das Flattern bekommt: Da kann keiner Sicherheit spüren! Da geht keiner rein und sagt: Oh ja, jetzt zeig ich denen mal, was los ist! Wenn du dann in dieser Mannschaft bist und weißt, dass jeder deiner Mitspieler mit sich selbst zu tun hat, Angst hat und unsicher ist, ja wie sollst du dann eine Topleistung bringen können? Selbst wenn du willst, das geht nicht!

Reicht die Zeit noch aus, um eine Turnier-Mannschaft für die Heim-Europameisterschaft nächstes Jahr zu entwickeln?

Es muss jetzt endgültig Schluss sein mit den Experimenten! Es muss heißen: Wir werden irgendwann mal einen 23er-Turnierkader haben. Aber: Die 15 Spieler, die für mich infrage kommen und von denen elf im Eröffnungsspiel auf dem Platz stehen – auf die setze ich jetzt vollumfänglich. Wissen Sie: In der Bundesliga heißt es ja auch immer von den Trainern bei einem 20er-Kader: Das Rennen ist offen, der Kampf um die Plätze ist eröffnet. So ein Schmarrn! Dieser Spruch, bah, da muss ich immer den Kopf schütteln. Jeder hat eine Chance? Schwachsinn! Jeder Trainer, der zu einer Mannschaft kommt, mit der er sich im Vorfeld beschäftigt hat, der weiß doch ganz genau, wie acht oder neun Stammplätze ausschauen. Mit Beginn der neuen Saison müssen wir 15 Spieler haben, die gesetzt für die Europameisterschaft infrage kommen. Dann ist vielleicht der eine oder andere verletzt, dann kommt einer weg und ein anderer hinzu. Aber: Der Bundestrainer müsste seine ersten 15 klar im Kopf haben, er weiß doch ganz genau, dass es nächste Saison nicht die große Spieler-Überraschung geben wird. Wo soll denn der Superstürmer auf einmal herkommen?

Hansi Flick hat im vergangenen halben Jahr einige potenzielle Spieler aus diesem 15er-Paket bewusst nicht nominiert: Leroy Sané, Niklas Süle oder Serge Gnabry sind nur einige prominente Namen.

Unzweifelhaft gehört einer wie Sané zu diesen 15 Spielern. Aber der muss es wissen. Den darf man auch nicht um seinen Stammplatz kämpfen lassen. Wenn der fit ist, dann sage ich: Junge, mach! Du bist was Besonderes! Mach, mach, mach! Du bist kein Einheitsspieler, du bist kein Alibi-Spieler! Solche Leute, wie früher Ribéry und Robben, das sind die, die eine Mannschaft auch weiterbringen. Weil sie variabel sind, die Gegner überraschen können – und das zieht die anderen mit. Dann traut sich der Zweite, der Dritte, der Vierte!

Da schließt sich der Kreis zu den Bambini, die sich auch wieder ins Dribbling trauen sollen.

Richtig. Wir müssen endlich aufhören, dass die F- und E-Jugendlichen so spielen müssen, wie es der DFB und die Nationalmannschaft vorgeben. Oder irgendjemand, der den Fußball für die Senioren plant. Das kann nicht sein. Wir müssen jedem Kind vermitteln: Du hast die Freiheit, Fehler zu machen. Du darfst auf der Torlinie dribbeln und musst den Ball nicht weghauen. Und wenn du dich verdribbelst, musst du es das nächste Mal anders machen. So lernt man Verantwortung zu übernehmen.

Zum Abschluss: Der Bundestrainer genießt noch Ihr Vertrauen?

Wenn Hansi Flick als Bundestrainer im Amt bleibt, erwarte ich das von ihm, was wir eben besprochen haben. Das ist meine Vorstellung für den Weg in diese EM-Saison.

Interview: Manuel Bonke

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