München – Am Samstag geht es also in die nächste Runde, das berühmteste Radrennen der Welt. Mitten drin ist Ex-Profi Jens Voigt (51), der die Tour de France in insgesamt 120 Sendestunden als Eurosport-Experte begleiten wird. Im Interview spricht der Mann, der als Aktiver 17 Mal an der Frankreich-Rundfahrt teilnahm, über den Mythos Tour und den Radsport im Allgemeinen.
Herr Voigt, bei der Tour erlebt man Sie als Eurosport-Experten erneut in neuer Rolle – auf dem Motorrad. Das klingt spektakulär.
Auf dem Motorrad dabei zu sein, das ist so dicht wie es nur geht. Fast wie ein Comeback. Du kriegst alles mit wie ein Fahrer, außer dass du die Schmerzen in den Beinen nicht mehr hast. Du spürst den Regen, die Hitze, kriegst die Straßenoberfläche mit. Manchmal kommen Fahrer bei dir vorbei und quatschen ein, zwei Sätze. Das sind sehr intime Einblicke über die Stimmungslage im Feld.
Das klingt noch sehr nach dem Herz des Fahrers …
Ich bin immer noch mehr Fan als Experte. Manchmal müssen mich meine Kollegen bei Eurosport runterbremsen, wenn die Pferde mit mir durchgehen: „Mach mal langsam, Junge, es sind noch zwei Stunden Radrennen.“ Ich bin schon noch dabei und habe auch noch das Auge und denke mir: „Mensch, jetzt müssten sie attackieren, da ist Seitenwind, die Straße schlecht … jetzt wäre der Moment.“ Wobei ich mir geschworen habe, dass ich als Experte niemals von oben herab auftreten will, wie „bei mir war der Kilometer noch 1300 Meter lang“. Aber wenn ich einen Fehler sehe, muss ich ihn ansprechen.
Wie oft sind Sie denn noch selbst im Sattel?
Viel zu wenig. Meine Kinder und meine Frau zeigen mir den Vogel, wenn ich sage, dass ich mal wieder fünf Stunden fahren will. Zwei Stunden maximal geben die dir. Ich versuche, dass ich so zwischen zwei und drei Stunden schaffe, dass ich mir minimal Fitness erhalte. Es gibt ja doch immer wieder Events. Im Juli ist eine Aktion für eine Kinderkrebshilfe inden USA. Da fährst du 100 Kilometer – die musst du irgendwie überstehen. Aber ich muss auch sagen: Man hat eine gewisse Muscle Memory. Wenn ich mich aufs Fahrrad setze, dann geht fast ein Seufzen durch meinen Körper: Das ist dann wie wenn du amputierte Gliedmaßen zurückbekommst. So jetzt bin ich wieder vollständig. Das habe ich immer noch.
Ihre größten Erlebnisse als Fahrer haben mit der Tour zu run. Sie haben einmal gesagt, der erste Etappensieg dort hat Ihr Leben verändert, weil es das Größte ist, was sie erreichen konnten. Was macht die Bühne strahlender?
Das ist einfach ein Titel, ein bisschen wie Olympiasieger, das bleibt dir ein Leben lang. Was du bei der Tour schaffst, das zählt doppelt. Beim Giro zum Beispiel hast du vielleicht fünf, die gewinnen, und acht, die aufs Podium wollen. Bei der Tour wollen zehn gewinnen und fünfzig aufs Podium – und alle anderen mindestens einen Etappensieg. Beim Giro hast du 50 Journalisten, bei der Tour 1500. Der Druck ist viel, viel höher – allerdings auch die Risikobereitschaft. Wenn du bei der Tour auf eine Kurve zufährst, dann sagt der Fahrer neben dir: „Jens, entweder bremst du, oder wir werden beide stürzen, weil ich auf keinen Fall bremsen werde.“ Auf dem Papier, von den Höhenmetern und den Etappenlängen ist der Giro oft schwerer. Aber weil weniger Fahrer in Höchstform sind und weniger Fahrer so entschlossen sind, ist der Giro leichter zu bestreiten als die Tour.
Zumal die Tour de France nicht einfacher wird. Mit der Rückkehr des Puy de Dome hat man nun alle französischen Bergmassive auf dem Programm.
Ja, das ist so die Tendenz. In meiner ersten Tour zum Beispiel gab es noch eine Woche, in der überhaupt keine nennenswerten Berge kamen. Da konnte ein Klassement-Fahrer noch mit ein, zwei Kilo mehr Gewicht reingehen und sagen: bis Sonntag habe ich die abgeschwitzt. Das geht jetzt nicht mehr. Diesmal gibt es schon am zweiten Tag einen Berg, der ein richtiger Knaller ist. Da wird das Feld auseinanderfliegen. Das bedeutet: Jeder Fahrer muss bei Kilometer null der Tour absolut austrainiert sein. Jeden Tag ist etwas enorm Spektakuläres dabei. Für uns ist das toll zum Zuschauen. Für die Fahrer ist es ein enormer Extra-Stress.
Eine gute Entwicklung?
Weiß ich nicht. Aber ich sag es mal so: Ich bin ein emotionaler Mensch. Wenn einer stürzt, dann tut mir das auch weh. Oder wenn einer eingeholt wird, dann tut es mir in der Seele weh.
Bei der Tour de Suisse stürzte Gino Mäder zu Tode. So hart es klingt – gehört das zum Geschäft?
Wenn man zurückschaut… zu Zeiten von Anquetil oder Merckx, da gab es so etwas eigentlich nicht. Heute sind viele Dinge sicherer, aber das bessere Material hat auch eine andere Seite. Ein Jacques Anquetil hat einfach keine 100 km/h erreicht. Das hat das Fahrrad nicht hergegeben, das flatternde Baumwolltrikot. Das ist heute anders. Selbst ich kenne noch die berühmte Abfahrt bei der Tour de Suisse, auf der das ganze Feld mit 120 dahin rollt. Das sind dort eigentlich sehr sichere Bedingungen, aber wenn natürlich etwas schief geht …
Kann man das Risiko zumindest mindern?
Ja, schon. Man müsste zum Beispiel sagen: Wir haben auf keinen Fall eine Zielankunft am Fuß einer Abfahrt. Dass die Fahrer nicht den Druck spüren, auf keinen Fall Zeit verlieren zu dürfen. Es mag auch helfen, die Zuschauer zu schulen. Bildungsvideos bei jeder Rundfahrt zu zeigen, Leute, die Radfahrer sind auf der Straße in ihrem Büro. Geht da nicht rein, die Fahrer werden jeden Quadratzentimeter ausnutzen. Die Fahrer sind die Show – ihr sollt nicht Teil der Show sein, mit lustigen Kostümen mitrennen und mit einer Riesenfahne, die sich beim Fahrer im Rad verhängt. Dann muss man vielleicht auch auf den Zielbereich schauen. Vielleicht kann das nicht immer im Stadtzentrum sein, weil die Straßen eben zu eng und zu klein sind. Einfach mit ein bisschen gesundem Menschenverstand. Bei den Fahrern kannst du schwer ansetzen, die gehen einfach ein hohes Risiko ein.
Wie war das bei Ihnen? Wie häufig sind Situationen im Grenzbereich?
Mal in aller Deutlichkeit: Bei einer normalen Touretappe hast du zweimal fast dein Leben verloren, fünf Mal hast du gedacht: Wow, das war aber knapp. Ungefähr 200 Mal kriegst du einen Ellenbogen ab oder berührst selbst jemanden, weil du vielleicht einer Flasche ausweichst oder einem Stein. Das ist leider ein normaler Arbeitstag.
Wie war es mit der beschriebenen Leidenschaft der Zuschauer?
Ich bin leidenschaftlich, ich finde das eigentlich großartig. Die Zuschauer ermöglichen es uns, Höchstleistungen zu bringen. Wie langweilig wäre Champions League ohne Zuschauer? Aber: Spätestens seit einem Unfall in Alpe d’Huez habe ich mir fest vorgenommen: Wenn mir so etwas passiert, dann frage ich diesen Menschen: Wo willst du es hinhaben? Ich hätte ihm eine verpasst. Und wenn ich ihn vor Ort bestraft habe, fahre ich weiter. Die Leute unterschätzen die Situation, dass da Fahrer mit 60 ankommen. Und was sie auch unterschätzen, sind Schläge auf die Schulter. In Alpe d’ Huez erlebt man das oft. Ist ja furchtbar nett. Aber wissen Sie, wie weh eine Schulter tut, wenn man 200 Schläge abkriegt? Wissen Sie, wie das brennt? Darum: Schreit die Fahrer an, aber bleibt weg.
Noch einmal zurück zur aktuellen Tour. Auf dem Programm steht diesmal nur ein Zeitfahren. Verändert das den Charakter entscheidend?
Ja und nein. Den Fahrern, die wir als Favoriten sehen – Vingegaard und Pogacar, denen ist das gerade egal. Die sind im Zeitfahren auch gut und am Berg sowieso. Da ändert sich nicht viel. Es wäre vielleicht eine gute Tour für die Franzosen wie Romain Bardet und Thibaut Pinault, die sehr gute Bergfahrer sind, aber bei allem Respekt nicht in der Zeitfahrklasse wie Pogacar. Vielleicht ist die Tour ja gut für Emu Buchmann …
Hat er die Form?
Bei der Deutschen Meisterschaft war er wirklich beeindruckend. So entschlossen und wagemutig habe ich ihn lange nicht gesehen. Das dürfte ihn bestärken. Er weiß: ich muss nicht immer warten, ich kann auch mal was Verrücktes machen. Und wenn ihm das am vorletzten Berg gelingt, dann müssen Vingegaard oder Pogacar das erst einmal zufahren.
Allerdings ist er Edelhelfer für Ex-Giro-Sieger Jai Hindley.
Ja, der ist für mich ein bisschen die Unbekannte. Ich denke schon, dass er gut in Form ist. Mit Bora-hansgrohe hat er ein Team, das sehr gut ist, Fahrer zur rechten Zeit in Form zu bringen. Aber es ist eine unangenehme Zeit für Fahrer wie ihn – man hat heute unglaublich viele Superstars gegen sich. Wie Vingegaard, Pogacar, Wout van Aert, Mathieu van der Poel. Da ist es sehr schwer für einen „normalen“ Fahrer. Eigentlich müsstest du dir am Anfang des Jahres einen Plan machen: ich möchte überall da fahren, wo Pogacar und Roglic nicht fahren. Denn da gewinnst du nichts. Wobei Roglic oder auch Geraint Thomas bei der Tour ja noch nicht einmal dabei sind.
Also doch Vingegaard gegen Pogacar?
Ja, auf jeden Fall. Alle anderen sind für mich eine Stufe tiefer angesiedelt. Ich bin sehr gespannt auf die Mannschaft Ineos Grenadiers. Die scheinen außer Pidcock keinen zu haben, der auch nur einigermaßen in Form ist. Für eine Mannschaft mit dem Budget – da bin ich ratlos. Aber gut, wie sagte Mike Tyson: Du hast einen Plan bis du zum ersten Mal ins Gesicht geschlagen wirst. Beim Giro habe ich fest an Remco Evenepoel geglaubt und nach einer Woche war er weg. Trotzdem: Für mich ist es Pogacar: Der macht selten Fehler, stürzt selten, wird auf der Kante nicht abgehängt. Er ist für mich der klare Favorit.
Interview: Patrick Reichelt