Kurz vor dem Start hat natürlich auch der Weltverband UCI das Thema publikumswirksam auf die Tagesordnung gesetzt. Man werde Großes zur Sicherheit im professionellen Radsport zu verkünden haben, sagte UCI-Chef David Lappartient sicherlich mit Blick auf den Unfalltod von Gino Mäder kürzlich bei der Tour de Suisse. Das ist zunächst einmal natürlich eine gute Nachricht – jeder Schritt, der dramatische Zwischenfälle wie am Albulla-Pass zumindest ein bisschen unwahrscheinlicher macht, ist allemal zu begrüßen.
Doch wie ernst ist es den Machern des Radsports wirklich? Ein Blick auf die Dinge, die die Fahrer in den nächsten drei Wochen auf dem Weg durch Frankreich erwarten, lassen zumindest leise Zweifel offen. Klar, die Tour ist der Königswettbewerb der Zunft. Der härteste, schnellste und beste Radler soll am Ende in Paris in Gelb auf dem Podium stehen.
Aber die große Schleife folgt seit einigen Jahren einem bedenklichen Trend des immer höher, immer schwerer. Das mehrtägige Einrollen von einst ist längst Vergangenheit. Die Spektakel der Sprinter nahezu auch. Und auch die Zeitfahren sind nur noch Nebensache. 22 Kilometer stehen auf dem Programm – so wenig gab es noch nie, seit man den Kampf gegen die Uhr 1934 entdeckte.
Die Rundfahrt 2023 ist eíne Rundfahrt der Berge. Über fünf Gebirgszüge verfügt die Grande Nation – nach der Rückkehr des Puy de Dome auf die Tour-Karte werden die Fahrer nun tatsächlich in allen fünf Bergwelten über die nennenswertesten Erhebungen gehetzt. Acht der 21 Etappen fallen unter die Kategorie Hochgebirge. Praktisch täglich werden Titelverteidiger Jonas Vingegaard und Kollegen über brachiale Anstiege und rasante Abfahrten geschickt. In den Grenzbereich eben – irgendwo zwischen Spektakel und Desaster. Wohin sich die Sportler im Kampf um den wichtigsten Titel der Disziplin schon immer bereitwillig begaben, wie nicht zuletzt Ex-Profi Jens Voigt unserer Zeitung erklärte. Zweimal fast das Leben verloren – das ist der normale Alltag bei der Tour, wie Voigt sagte.
Keine gute Entwicklung. Zumal die Tour eigentlich auch stets den komplettesten Fahrer suchte. Einen Sportler, der im Sprint und Zeitfahren genauso bestehen kann wie im Hochgebirge. Aber diese Zeiten sind, wie es scheint, vorbei.
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