Frankfurt – Sie ist gut drauf. Aber so kennt man Gina Lückenkemper ja, eigentlich immer mit einem Lächeln auf den Lippen. Die 26-Jährige ist Deutschlands beste Sprinterin. Vergangenes Jahr wurde sie Sportlerin des Jahres, über 100 Meter Europa- und Deutsche Meisterin, mit der 4×100-Meter-Staffel holte sie EM-Gold und WM-Bronze. Mit Vorfreude blickt sie auf die Deutschen Meisterschaften am Wochenende in Kassel. Im Auestadion hat sie 2016 über 200 Meter ihren ersten Meistertitel gefeiert. Wir haben mit ihr gesprochen – einmal kurz unterbrochen, als Dackeldame Akira durch den Raum wetzt.
Vieles bei Ihnen ist auf die WM in Budapest im August ausgerichtet. Kürzlich haben Sie beim Meeting in Dessau schon mit Zeiten um die 11 Sekunden aufhorchen lassen. Wie viel Prozent fehlen denn dann überhaupt noch?
Ich glaube nicht, dass wir schon am Ende der Fahnenstange angekommen sind. Ich bin einfach schon in einem komplett anderen Fitnesszustand, als es noch im vergangenen Jahr der Fall gewesen ist. Das ist der Tatsache geschuldet, dass ich verletzungsfrei ins letzte Jahr gestartet bin und normal durchtrainieren konnte – (lacht) wenn man vielleicht von der EM in München absieht, da habe ich mich am Ende ja selbst zerstört.
(Lückenkemper stürzte beim 100-Meter-Finale im Zielbereich und riss sich mit den Spikes das Knie auf. Im Krankenhaus wurde sie mit acht Stichen genäht, wenige Tage später lief sie dennoch das Staffelfinale mit.)
Aber ich hatte das Glück, dass ich danach genug Zeit zur Erholung hatte. Ich bin dann wieder gesund ins Training gestartet, deshalb konnte ich extrem auf der letzten Saison aufbauen. Die gibt uns einen wunderbaren Grundstein, auf dem wir weiter aufbauen können. Meine langsamste 100-Meter-Zeit war in diesem Jahr 11,17 Sekunden – und das bei Gegenwind. Das konstante Niveau, das ich dieses Jahr auf die Bahn bringe, ist schon nochmal eine Spur krasser. Aber: Das große Ziel ist und bleibt die WM – und die findet erst im August statt. Da will ich richtig performen.
Sie haben Ihr Training vor einer Weile nach Florida verlagert, wo Sie mit Lance Brauman trainieren.
Seit Ende Mai bin ich zuhause in Bamberg. Hier bleibe ich auch für den Rest des Sommers. Die Saison in Europa mit den vielen Meetings und hochwertigen Wettkämpfen ist gestartet. Da ist es sinnvoller, hier in der Zeitzone zu bleiben und nicht wieder nach Florida zu fliegen. Wenn die US-Meisterschaften durch sind, kommt Lance auch wieder nach Europa.
Gibt es trotzdem Rücksprachen mit dem Trainer? Oder mit wem besprechen Sie sich beim Training?
Also ich habe meinen Dackel Akira mit auf dem Trainingsplatz (lacht). Nein, ich bin den Großteil der Zeit hier vormittags allein auf dem Trainingsplatz. Absolviere ich ausnahmsweise mal nachmittags eine Einheit, ist es einfacher, mich mit dem Trainer in Florida wegen der Zeitverschiebung auszutauschen. Ansonsten spreche ich danach Lance. Ich bin aber auch sehr wissbegierig und weiß inzwischen schon ganz gut selbst, wie ich auf was reagieren muss.
Sie sprachen an, dass Ihr Körper zuletzt mitgespielt hat. Spielt auch der Kopf eine Rolle für die starken Leistungen?
Ja, auf jeden Fall. Lance hat mal gesagt, dass es im Schnitt zwei Jahre dauert, bis ein Athlet gelernt hat, die Technik so umzusetzen, und bis sich der Körper an die Belastung gewöhnt hat. Ich bin zwar 2019 nach Florida gegangen, aber war nur drei Monate da, dann ein Jahr wegen Corona gar nicht. Genau genommen sind diese zwei Jahre also gerade erst durch. Wir sind eigentlich jetzt erst an dem Punkt, dass dieses Verständnis einsetzen kann. Es geht meinem Trainer außerdem nicht darum, stumpf auf dem Platz zu trainieren. Es geht viel um Verständnis, Lernen und Diskussion. Er hat einen ganzheitlichen Ansatz.
Nach dem Meeting Mitte Juni in Dessau haben Sie ein „mega krasses Jahr“ angekündigt. 2022 war eigentlich kaum zu toppen. Was soll noch kommen?
Ich habe aus dem vergangenen Jahr noch eine Rechnung mit der WM offen. Da war wieder im Halbfinale Schluss, obwohl ich eine Zeit gelaufen bin, die in den Jahren zuvor meist für das Finale gereicht hätte. Das Niveau ist einfach krasser geworden – ich möchte da ein Wörtchen mitreden. Ich bin gespannt, wie sich das Weltniveau entwickelt in diesem Jahr, bislang sind einige Protagonistinnen noch nicht in Erscheinung getreten. Mit meiner Leistung bin ich bislang sehr zufrieden, aber das Weltniveau ist momentan noch eine Wundertüte.
Spüren Sie anhand der Erfolge von 2022 eigentlich öffentlichen Druck?
Für mich sind die Erwartungshaltungen von außen nicht wichtig. Lance sagt immer, dass eigentlich nur die Meinung von drei Personen zählt – meine eigene, die meines Trainers und die von den Personen, die mir am nächsten stehen. Hinter so einer Leistung steckt mehr, als nur schnell zu rennen.
Welchen Stellenwert genießt die DM in Kassel? Ist sie nur vergleichbar mit einem Meeting?
Das hat schon eine höhere Bedeutung. Es ist ein Teil meines Weges Richtung Budapest, dazu eine Deutsche Meisterschaft, da möchte ich gut laufen. Kassel kommt mir außerdem sehr gelegen, weil meine Familie von Soest aus und viele Freunde nicht allzu weit fahren müssen. Es wird sicher einen kleinen Lückenkemper-Fanblock geben (lacht).
Interview: Björn Friedrichs