Episches Wimbledon-Finale

Jetzt ist Alcaraz der Gejagte

von Redaktion

MATHIAS MÜLLER

Das Wimbledon-Finale zwischen Carlos Alcaraz und Novak Djokovic hat so viele Geschichten geboten, dass man gar nicht weiß, wo man ansetzen soll. Eines aber ist sicher: es wird als „episch“ in die Annalen eingehen. Eine Begrifflichkeit, die vielleicht etwas zu oft verwendet wird, aber in diesem Fall doch perfekt passt. Denn der Sieg des Spaniers könnte eine Zeitenwende im Tennis eingeläutet haben.

Dabei musste man sich nach dem ersten Satz ernsthafte Sorgen um den 20-Jährigen machen. Zu dominant war Djokovic gestartet. Und als Durchgang Nummer zwei auf den Tiebreak zusteuerte, war Alcaraz Schicksal eigentlich besiegelt, denn die vergangenen 13 hatte der „Djoker“ alle gewonnen. Doch plötzlich zeigte der sonst so coole Serbe Schwächen. Alcaraz hingegen blieb locker, im Gegensatz zum French-Open-Halbfinale vor wenigen Wochen. Damals war er vor Aufregung so verspannt, dass sein Körper völlig verkrampfte. Diesmal vernaschte er den Wimbledon-Seriensieger im entscheidenden Aufschlagspiel im fünften Satz mit einer rotzfrechen Stopp-Lob-Kombination, die fast einer Majestätsbeleidigung glich. Kurz darauf schmiss er sich nach einem Passierball wie einst Boris Becker. Der Unterschied: während der Deutsche zu Boden plumpste, fing sich Alcaraz mit seiner Athletik ab. Tour-Kollege Nick Kyrgios twitterte: „Alcaraz ist ein Freak.“

Djokovic, der sich als großartiger Verlierer präsentierte, fand noch etwas heroischere Worte. Alcaraz vereine das Beste von Roger Federer, Rafael Nadal und sich selbst in sich, sagte „Nole“. Wow. Damit ist die ohnehin schon hohe Messlatte bis in den Himmel gesetzt. Das 12-jährige Ich von Alcaraz hatte sich den Sieg in London und in Paris zum Ziel gesetzt, ein Video davon kursiert derzeit im Netz. Das hat er nun schon früher geschafft, als er und sein vorbildlich bodenständiges Umfeld es vermutet hätten. Nun kommt der nächste Schritt: Er muss mit den Erwartungen umgehen. Wie schwer das sein kann, erlebt die deutsche Nummer eins Alexander Zverev seit gut zwei Jahren. Ab jetzt ist – zumindest vorerst – Alcaraz der Gejagte. Und Djokovic? Er hat den Grand Slam wieder nicht geschafft und vermutlich wird es das auch nicht mehr. Ihn abzuschreiben wäre aber ein fataler Fehler. Denn wer ihn gesehen hat, weiß: ihm ist auch mit 36 Jahren weiter alles zuzutrauen.

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