Courchevel – Tadej Pogacar hatte Mühe nicht vom Rad zu fallen. Mit offenem Trikot, schmerzverzerrtem Gesicht und schwerem Tritt quälte sich der zermürbte Superstar fast im Schritttempo die 18 Prozent steile Rampe auf dem Flugplatz von Courchevel hinauf. Verloren war der Kampf um das Gelbe Trikot da bereits – Jonas Vingegaard war längst im Ziel.
Nach einem kolossalen Leistungseinbruch Pogacars auf der Königsetappe der 110. Tour de France sind letzte Zweifel am erneuten Vingegaard-Triumph in Paris ausgeräumt. Auf 7:35 Minuten wuchs der Vorsprung des Kapitäns des Teams Jumbo-Visma, den auf dem Weg zum zweiten Gesamtsieg in Paris wohl nur noch eine Krankheit oder ein schwerer Sturz aufhalten können.
„Ich hätte nicht gedacht, dass es so läuft. Mehr als sieben Minuten zu haben, ist sehr gut“, sagte Titelverteidiger Vingegaard: „Aber es kommen noch einige schwere Etappen.“ Sein deutscher Sportlicher Leiter Grischa Niermann war sich dagegen sicher: „Du hast heute die Tour de France gewonnen.“
Einen Tag nach der Machtdemonstration im Einzelzeitfahren nach Combloux fiel der Unterschied zwischen den Rivalen noch deutlicher aus. Pogacars erwartete Gegenoffensive blieb aus – der Slowene war dazu schlichtweg nicht mehr in der Lage. Der zweimalige Tour-Champion verlor am brutalen Schlussanstieg Col de la Loze frühzeitig den Anschluss und muss seinen Traum vom dritten Gesamtsieg nach 2020 und 2021 begraben. „Ich bin tot. Ich bin völlig am Ende“, sagte Pogacar in der Schlussphase via Funk.
Die letzte potenzielle Hürde für Vingegaard wird die Bergetappe in den Vogesen am Samstag. Verschiebungen an der Spitze des Klassements sind bei der Kletterpassage nach Le Markstein aber nicht zu erwarten. Die Frankreich-Rundfahrt endet am Sonntag traditionell in Paris auf den Champs Elysees. Vingegaard kann den Schampus kaltstellen. Die Schlüsseletappe am Mittwoch, die der Österreicher Felix Gall (AG2R Citroen) gewann, hatte für den zum Angriff verdammten Pogacar schon mit einer Schrecksekunde begonnen. Am Fuße des ersten Anstiegs Col des Saisies stürzte der Slowene auf die linke Seite, stieg aber schnell wieder auf sein Rad und kehrte in die Gruppe um Vingegaard zurück.
Der große Schlagabtausch zwischen Vingegaard und Pogacar war am 2304 m hohen Col de la Loze, dem höchsten Anstieg der diesjährigen Tour, erwartet worden. Doch das Duell, das die Rundfahrt lange bestimmt hatte, blieb aus.
Knapp acht Kilometer vor dem Gipfel verlor Pogacar den Anschluss an die Favoritengruppe. Dem 24 Jahre alten Träger des Weißen Trikots stand die Erschöpfung ins Gesicht geschrieben. Vingegaard schaute sich überrascht um und gab wenig später Vollgas.
Nach einer Tempoverschärfung jagte der 26-Jährige den Berg hinauf und baute das Polster auf Pogacar sukzessive aus. Ein Motorrad sowie ein Fahrzeug der Tour-Organisation versperrten im Fangedränge kurz den Weg. Vingegaard fand eine Lücke zwischen den Fahrzeugen und fuhr dem Ziel entgegen.
„Das war wieder reines Chaos. Jonas hat stillgestanden, weil er nicht an den Autos vorbei konnte“, sagte Niermann der ARD.
Bei der wohlverdienten Kletterpause am Donnerstag wird der deutsche Sprinter Phil Bauhaus nicht mehr in den Kampf um den Etappensieg eingreifen. Der 29-Jährige vom Team Bahrain Victorious, zuvor mit starken auftritten, verließ das Rennen am zweiten Anstieg, dem Cormet de Roselend.