Nach dem Naturereignis auf der Königsetappe der Tour de France sah sich sogar deren Chef Christian Prudhomme genötigt, die Dinge zu relativieren. „Die Fragen zu den verschiedenen Verdächtigungen“, so gab es der 62-Jährige nach dem Gala-Auftritt von Titelverteidiger Jonas Vingegaard zu Protokoll, „sind absolut nicht unberechtigt.“ Realität oder nur das Erbe einer finsteren Vergangenheit? Sonderleistungen werden bei den weltbesten Radfahrern zwangsläufig von Zweifeln begleitet.
Und es war mehr als eine Sonderleistung, die Jonas Vingegaard da, mit zwei schweren Tour-Wochen in den Beinen, dieser Tage ablieferte. Im Zeitfahren wie im Hochgebirge nahm er seinen bislang schärfsten Widersacher Tadej Pogacar so fürchterlich auseinander, dass schon jetzt keine Zweifel daran bestehen: Vingegaard wird am Sonntag erneut in Gelb vom Podium unter dem Triumphbogen winken. Es ist richtig, auch die Leistungen des Dänen zu hinterfragen. Test- und Analyseverfahren müssen weiterentwickelt werden. Sodass man wenigstens in den nächsten Jahren mit einiger Sicherheit sagen kann, ob der Mann aus dem Örtchen Hallerslev ein Betrüger ist oder eben doch der Fahrer von einem anderen Stern, als der er sich nun in den Alpen präsentierte.
Und bis es so weit ist, muss man sich vor Vingegaards Auftritten bei der Tour de France verneigen. Der 26-Jährige ist genau das, was man bei der großen Schleife seit 1903 sucht. Er ist der kompletteste und beste Fahrer der Welt. Ein Mann, der sich auf jedem Zweirad-Terrain behaupten kann. Das mag auch für Pogacar gelten, doch der Slowene hat bei seinem Einbruch am Mittwoch wohl auch für ein nicht ganz einfaches Frühjahr bezahlt.
Und es ist gut möglich, dass diese Tour einen Vorgeschmack für die nächsten Jahre gegeben hat. Vingegaard, der vor wenigen Jahren noch am heimischen Fischmarkt buckelte, ist in einem Alter, in dem Ausdauerathleten wie Radsportler noch an Qualität und Reife gewinnen. Und es kann sein dass er nun eine Ära begründet hat. Vielleicht wird er unschlagbar, zumindest dürfte der Sieg in Frankreich auch in den nächsten Jahren vor allem über ihn führen. Hoffnungen immerhin gibt es. Vielleicht ist es Pogacar, vielleicht kann ihn der diesmal abwesende Remco Evenepoel irgendwann ausbremsen. Prudhomme würde auch das sicherlich recht sein. Solange es nicht die Dopingfahnder sind.
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