Ein geflügeltes Wort: „Der Club is a Depp.“ Das sagen die Anhänger des 1. FC Nürnberg immer, wenn ihrem Verein mal wieder etwas missglückt ist. Dabei waren die Franken lange Zeit alles andere als eine Lachnummer, sondern ein Erfolgsmodell des deutschen Fußballs. 1968 gewannen sie die neunte Deutsche Meisterschaft und waren Rekordtitelträger, ehe der FC Bayern an ihnen vorbeizog. Doch 1969 war der Club erstmals der Depp – und sein bis heute anhaltendes Leiden begann: Der 1. FCN stieg als Meister ab. Wie konnte das geschehen?
Es hatte gewiss mit Max Merkel zu tun, der Trainer-Überfigur. Der Wiener war berühmt dafür, Mannschaften in Form zu bringen, und berüchtigt, Spieler zu zerstören. Zunächst war Merkel der Held. Er kam im Winter 1966, rettete Nürnberg vor dem Abstieg. Bei seinem Dienstantritt hatte er den Geldschrank auf der Geschäftsstelle gesichtet und zum Schatzmeister gesagt: „Den machen wir so voll, dass wir uns zu zweit gegen die Türe stemmen müssen, damit er zugeht.“ Nach einem 7:3 über den FC Bayern bekam Merkel einen Vertrag über vier Jahre, dotiert mit 20 000 Mark im Monat.
Nach der Meisterschaft 1968 veranlasste Max Merkel einen Umbruch in der Mannschaft: Stars wie Torjäger Franz Brungs (25 Treffer), Karl-Heinz Ferschl und Gustl Starek ließ er ziehen, kaufte 13 neue Spieler ein, Tore sollte nun der junge Erich Beer schießen. Merkel ist sich sicher, mit seinen Methoden ein neues Team aufbauen zu können. Zur Saisonvorbereitung geht es ins Kleinwalsertal: Der Trainer schickt die Mannschaft auf 2000 Meter Höhe zu ausufernden Laufeinheiten, er selbst verfolgt das Geschehen vom Hotel aus mit dem Fernglas. Merkels Konditionierung geht nicht zum richtigen Zeitpunkt auf, der ausgepowerte Meister startet mit einem 1:4 zu Hause gegen Aachen und einem 0:4 in Offenbach in die Saison. Der Europacup der Landesmeister wird zum Stimmungskiller: Aus gegen Ajax Amsterdam in der ersten Runde (1:1 und 0:4). Ab dem 18. Bundesligaspieltag ist der Club Letzter. Merkel kündigt an, gratis zu arbeiten, falls man absteige. Doch nach dem 27. Spieltag verabschiedet er sich zum FC Sevilla.
Erst Assistent Robert Körner, dann der gütige Kuno Klötzer, das menschliche Gegenprogramm zu Max Merkel, versuchen noch die Wende herbeizuführen – es gelingt ihnen trotz 8:4 Punkten aus den letzten sechs Partien nicht. Luggi Müller, der Kapitän, fordert für die Mannschaft eine sechsstellige Nichtabstiegsprämie: „Zu lange war ich ein billiger Spieler“, sagt er. Teambetreuer Max Morlock, Weltmeister von 1954, ist deprimiert angesichts dieser Einstellung: „Hier sind einige, die wollen nur mit Geldscheinen gestreichelt werden.“ Die meisten Spieler schauen sich nach anderen Vereinen um. Torwart Jürgen Rynio etwa wechselt zu Borussia Dortmund. Gegen den BVB spielte der Club in seinem vorletzten Match nur 2:2, ein Fehler Rynios ermöglicht dem BVB den Ausgleich. Es kommt zu einem Abstiegsendspiel in Köln: Der 1. FC Nürnberg verliert 0:3, auf dem Rückflug in der Linienmaschine wird munter gezecht: Luggi Müller und Georg Volkert kippen sich Whisky hinter die Binde.
Meister 1969 wird der 1965 in die Bundesliga aufgestiegene FC Bayern, dessen junger Star Franz Beckenbauer aber befindet: „Die größere Überraschung der Saison ist der Abstieg des 1. FC Nürnberg.“ Erklären konnte er sich den Absturz des Rivalen nur so: „Eine Mannschaft, die das Siegen gewohnt war, treffen Niederlagen doppelt.“ Alt-Bundestrainer Sepp Herberger empfand den Fall des 1. FC Nürnberg als so erschütternd, dass er die Medien aufforderte, „die Mannschaft moralisch zu unterstützen“. Ein wenig Pech hatte der Club freilich auch: Als Vorletzter der Abschlusstabelle war er mit 29:39 Punkten gar nicht so weit weg von den 38:30, mit denen Alemannia Aachen Vizemeister wurde.
Max Merkels Trainerkarriere erlebte durch das Club-Desaster keinen Knick. In Spanien trainierte er nach Sevilla noch Atletico Madrid, sogar beim FC Barcelona war er ein aussichtsreicher Kandidat. Bei deutschen Vereinen wurde Merkel oft als Schreckgespenst gehandelt. Das Gerücht, er werde kommen, genügte schon, um eine Mannschaft anzuspornen. Kein Trainer in Deutschland dürfte über seine Schützlinge je so hart gerichtet haben. In Nürnberg nannte er Srdjan Cebinac „Trottel, Simulant, Eselstreiber, Schaschlikbrater“. Und noch einen Spruch draufgesetzt: „Wenn ich denke, was der gekostet hat und wie viele Tore er schießt – dagegen ist Pelé billig.“
Merkels Sprache zwischen Originalität und Radikalität wurde zu seinem zweiten Geschäftsfeld als Kolumnist bei Bild, wo er fast bis zu seinem Tod 2006 mit 87 Jahren beherzt über die Bundesliga ablästerte. Und so selbstsicher, als hätte es für ihn nie ein Scheitern gegeben.