Ist Hungern das neue Doping?

von Redaktion

Klettern hat ein großes Problem: RED-S – die Athleten wünschen sich klarere Regeln

VON NICO-MARIUS SCHMITZ UND THOMAS JENSEN

München – Der Klettersport hat ein Problem. Athleten, die hungern, um an der Wand bessere Leistung zu zeigen. Und dann keine Energie mehr haben, um alle Körperfunktionen abzudecken. Viele Sportler sind unversichert: Ist das jetzt der neue Weg zum Erfolg? Zur Verunsicherung trägt der Internationale Kletterverband (IFSC) bei, der klare Regeln und einen konsequenten Umgang vermissen lässt.

Das sieht auch Volker Schöffl so, der seit 30 Jahren den nationalen Kletterkader betreut und seit 2009 in der medizinischen Kommission der ISCF war. Vor einigen Wochen ist der erfahrene Mediziner aus der Kommission zurückgetreten. Den Umgang des Verbands mit RED-S habe er als Mensch und Arzt nicht mehr verantworten können.

RED-S steht für das Relative Energie-Defizit-Syndrom. Sportler haben dabei nicht mehr ausreichend Energie, um den Körper zu versorgen. „In der Regel ist es in Gewichtsklassensportarten mit Untergewicht verbunden“, sagt Schöffl. Die Essstörung ist aber nur ein Symptom, RED-S kann sich auf unterschiedlichste Weise auf vielen Ebenen äußern: Reduzierte Muskelkraft, reduzierte Ausdauer, erhöhte Verletzungsanfälligkeit, Magen-Darm-Probleme, Koordinationsprobleme, Depressionen, Zyklusstörungen …

Schöffl berichtet von einer Untersuchung: „Letztes Jahr haben wir 147 beantwortete Fragebögen von internationalen weiblichen Kletterinnen zurückbekommen. 13,4 Prozent haben eine Essstörung zugegeben, 16 Prozent berichteten von einer ausbleibenden Regelblutung.“ Bei Männern und Frauen beobachtet Schöffl eine Zunahme kritischer Werte.

Es gebe keine Sportart, in der man so viele Daten wie BMI (Body-Mass-Index, Körpergewicht im Verhältnis zur Körpergröße), Körperfett und Unterhautfettmasse habe. Dabei sei herausgekommen, dass die Kletterer von allen Sportarten die niedrigsten Werte haben. „Seit sieben Jahren fordern wir, um kranke Athleten zu schützen und eine Vorbildfunktion kranker Athleten zu verhindern, dass ein Riegel vorgeschoben werden muss. Aber da kommen wir nicht weiter.“ Schöffl spricht von einem Konzept, dass die Athleten anhand von Daten sowie psychologischer und medizinischer Gutachten in grüne, gelbe und rote Zonen eingruppiert. Die rote Zone impliziert ein Startverbot.

Der internationale Kletterverbot misst den BMI jedoch erst ab dem Halbfinale, Konsequenzen bei einem zu niedrigen Wert gibt es keine.

„Wenn ich kurzfristig vier Kilo verliere, habe ich einen Vorteil, weil die Relativkraft steigt. Das kann dann den Unterschied machen, ob man drei Züge mehr oder weniger macht“, sagt Nico Schlickum, Bundestrainer Bildung & Wissenschaft, Sportklettern beim Deutschen Alpenverein. Der DAV hat seit Mitte 2021 ein interdisziplinäres Team zusammengestellt und arbeitet intensiv an Präventionsmaßnahmen. „Wir müssen eine Atmosphäre herstellen, in der Sportler und Trainer über ein Thema sprechen können, das lange wie der Elefant im Raum behandelt wurde.“

Leonie Lochner (22) sieht das genauso. „Es wusste jeder Bescheid, aber jahrelang hat keiner darüber gesprochen“, sagt die Wettkampfkletterin im Gespräch mit unserer Zeitung über RED-S. Sie selbst habe sich vor zwei Jahren Tipps bei einer Ernährungsberaterin geholt und sich seitdem Gedanken darüber gemacht, was sie isst, wie viel und wann. Lochner hat sich mit vielen Athleten unterhalten und fordert klare Strukturen und Regeln. „Ich denke, dass jeder von uns schon ein paar Mal mit dem Gedanken gespielt hat: Warum sollte ich es nicht auch auf diese Weise versuchen? Wenn es klare Regeln geben würde, würden wir uns vor uns selbst schützen können. Weil uns dann signalisiert würde: Hey, wir wollen, dass ihr gesund seid und euren Erfolg auf einem gesunden Weg erreicht.“

Alma Bestvater (27) berichtet im Gespräch mit unserer Zeitung, dass ihr Gewicht immer im grünen Bereich, aber schon an der unteren Grenze war und sie Richtung Wettkampf sehr darauf geachtet habe, leicht zu sein. „Ich würde mir da einfach Regeln wünschen, die mir die Entscheidung abnehmen, wie viel Gesundheit ich dem Erfolg unterordne. Magersucht ist ähnlich ungesund wie Doping, funktioniert aber leider sehr gut, deswegen gehört es genauso gut verboten.“ Ist Untergewicht im Klettern also aktuell legales Doping? „Es ist nichts anderes“, sagt Schöffl.

Beim DAV gibt es nun das Angebot einer 24/7-Ernährungsberatung für alle Athleten. Die Sportler sollen regelmäßig kontrolliert , relevante Daten regelmäßig erhoben werden. Wenn ein Athlet die kritische BMI-Grenze unterschreitet, gibt es eine Schutzsperre für nationale Wettkämpfe. Der DAV nimmt als Grenze bei Männern über 18 Jahre den Wert 18,5. Bei einer Körpergröße von 176 Zentimetern und einem Gewicht von 58 Kilogramm wäre man mit einem BMI von 18,7 noch knapp über der Grenze.

Eine solche gewissenhafte Aufbereitung der Daten wie in Deutschland und konsequente Umsetzung einer Sperre gibt es jedoch in den wenigsten internationalen Verbänden. „Unser Ernährungsberater hat gesagt, dass es ganz klar dazu gehört, dass es ein Trainings- und ein Wettkampfgewicht gibt. Ein Wettkampfgewicht darf auch mal runter gehen, man darf mit dem Gewicht bewusst spielen. Dafür braucht es aber ganz viel Wissen und Ernährungskompetenz“, sagt Schlickum.

Und einen internationalen Verband, der seine Athleten nicht im Stich lässt. Rückfragen unserer Zeitung, wie mit der Thematik in Zukunft umgegangen werden soll, ließ die IFSC unbeantwortet. „Wir sind alle Leistungssportler, wir wollen alle gewinnen“, sagt Lochner: „Wenn du fünf bis zehn Kilo weniger wiegst, hilft dir das an der Wand auf jeden Fall weiter. Es darf nicht sein, dass man irgendwann das Gefühl hat, man muss diesen Weg auch einschlagen, weil sich schon so viele auf dem Weg befinden.“

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