Sogenannte Field-Interviews gab es in der Bundesliga auch in ihren Urzeiten – aber sie waren anders. Der Reporter traf die Spieler zwar ebenfalls unmittelbar nach Schlusspfiff, doch es wurden keine Tafeln mit den Vereins- und Ligasponsoren aufgestellt, vor denen das Gespräch stattzufinden hatte (Werbung kam ja eh erst so nach und nach). Nein, das Besondere an den Bildern, die allmählich vergilben in der Erinnerung: Um Fragesteller und Befragten bildete sich immer ein Halbkreis interessierter Fans, eine lebendige und doch schweigende Kulisse. „Na ja, meistens, nicht immer“, erinnert sich Fritz von Thurn und Taxis, der ab den 70er-Jahren für das Bayerische Fernsehen und die ARD solche Gespräche geführt hat, an manche Intervention von außen. Dass Menschen von den Tribünen und Stehrängen es, ohne aufgehalten zu werden, auf den Platz schafften – „es war halt alles lockerer damals“, so Thurn und Taxis. „Es war eine Zeit, zu der vieles möglich war.“
An eine solche Szenerie ist seit Jahrzehnten nicht mehr zu denken. In den Innenraum eines Stadions kommen nur noch die Medien – die, die Übertragungsrechte an den Spielen der Bundesliga erworben haben. Plus die Fotografen, die sich zuvor eine Weste abholen müssen, um als offizielle Teilnehmer des Bundesliga-Betriebs gekennzeichnet zu sein. Für Zuschauer ist der Rasen tabu. Mit dem Einzug der privaten Fernsehsender Ende der 80er-Jahre und kurz darauf des Pay-TV (Premiere) wurde alles geordneter.
Der Stadionbesuch hat sich über die sechzig Jahre gravierend verändert. Bis weit in die 80er-Jahre hinein achtete niemand darauf, Heim- und Auswärts-Fans zu trennen, oft verbrachte man die beiden Hälften des Spiels an den unterschiedlichen Ecken, wechselte sozusagen mit seiner Mannschaft die Seiten. Ausverkauft war selten mal, wer schon zu Olympiastadion-Zeiten zum FC Bayern ging, erzählt mit verklärtem Blick, dass spontane Besuche möglich waren, denn Karten gab es immer.
Bei ihrer Einführung 1963 war die Bundesliga allerdings durchaus ein Publikumserfolg. Durchschnittlicher Besuch in der ersten Saison: 24 642. In der zweiten ging es hoch auf 27 052. Ausgerechnet die frühen 70er-Jahre, geprägt vom sportlich faszinierenden Zweikampf zwischen Bayern München und Borussia Mönchengladbach, der viele Deutsche für den Fußball sozialisierte, erlebte die schwächste Resonanz. 17 932 im Spieljahr 1971/72, 16 387 nur noch 1972/73. Der positiven Reklame durch ein aufstrebendes Nationalteam, das mit wunderschönem Fußball 1972 Europameister wurde, stand der Verlust der Integrität infolge des Bundesligaskandals von 1971: Acht Vereine waren in den Verkauf von Spielen involviert, 52 Spieler und zwei Trainer wurden damals gesperrt.
Die Zahlen konsolidierten sich. 1997/98 verzeichnete die Liga erstmals einen Schnitt über 30 000, 2008/09 sprang sie über die 40 000er-Marke. Rekordsaison ist 2017/18 mit 43 441, in der abgelaufenen Saison kam die Liga nach der Corona-Delle mit Geisterspielen (Zuschauerschnitt 2020/21 waren 523) nahe heran.
Im Zug der Heim-Weltmeisterschaft 2006 waren Stadien in Arenen umgewandelt worden, Leichtathletik-Anlagen verschwanden, die Ränge wurden steil, rückten nahe ans Spielfeld heran – so wie man das aus England kannte. Manche Stadien büßten durch den Umbau und die Umwandlung von Steh- in Sitzplätze an Kapazität ein, neue Arenen wie in Wolfsburg, Mainz, Sinsheim (Hoffenheim), Augsburg beschränkten sich auf um die 30 000 Plätze; das Angebot an Tickets sollte knapp gehalten werden, die Ware begehrt sein.
Und die Menschen, die zur Bundesliga gehen? In den Anfangsjahren war das Publikum überwiegend männlich – und „ordentlich“ angezogen. In den 70ern machte sich die Kutten-Kultur breit: Fans trugen Jeansjacken mit Sammlungen von Aufnähern. Dann kamen die Replica-Trikots, Fans konnten zeigen: Wir gehören dazu. Fußball wurde zum Familienvergnügen. Heute geben in den Kurven, wo noch gestanden wird, die Ultras den Ton an – Merchandising-Folklore verfängt bei ihnen nicht.
Vieles ist reglementiert, es gibt Einlasskontrollen, Stewards, die überwachen, dass es zu keinen Zwischenfällen kommt, Polizei, die mit hochauflösenden Kameras die Ränge überwacht – das Stadion ist kein anarchischer, wilder Ort mehr wie vor fünfzig, sechzig Jahren. Nur gelegentlich noch bricht der Fan-Wille sich Bahn. Bevorzugt an letzten Spieltagen kommt es zum Platzsturm. Schon aus den 60ern gibt es Bildern von Anhängern, die das Torgebälk erklimmen. Reporter-Routinier Fritz von Thurn und Taxis erinnert an die Dramatik des 9. Juni 1979, als es bei der Meisterfeier des Hamburger SV zur Katastrophe kam: 70 Verletzte, am Ende musste ein Rettungshubschrauber auf dem Rasen landen. Nachhaltige Bilder schuf auch das letzte Bayern-Spiel 1989/90: Die Fans überwanden den Graben im Olympiastadion und stellten sich schon rund ums Spielfeld herum auf, um mit Schlusspfiff die Meistermannschaft jubelnd einzukesseln.
Inzwischen lassen die Vereine Platzstürme über sich ergehen, sofern der Anlass ein freudiger ist und den Spielern niemand ans Leder will. Allerdings haben die Fans den Platzsturm kommerzialisiert. Manche haben Gerätschaften eingeschmuggelt, um ein Stück Rasen herauszuschneiden, ein paar Maschen Tornetz oder den Wimpel der Eckfahne. Und am nächsten Tag steht es dann schon auf Ebay. Eine neue Fußball-Realität.