München – Wer daheim den Handstandwettbewerb gewinnen würde? Elisabeth Seitz überlegt. Hin und her gehen die Gedanken der 29-Jährigen, denn früher war die Sache klar. Heute aber, sagt sie, „wäre das ein harter Kampf“. Sowohl sie, die 25-malige deutsche Kunstturnmeisterin, als auch ihr kleiner Bruder Gabriel Eichhorn, gerade am Anfang seiner Karriere, können lange, sehr lange im Handstand stehen. Und beide sind nicht unbedingt dafür bekannt, gerne aufzugeben. Im Gegenteil.
Gute zwei Wochen sind inzwischen seit dem Moment vergangen, der die ganze Familie – und vor allem Mama Claudia – berührt hat. „Sie hat sich immer gewünscht, dass sie uns beiden gleichzeitig zujubeln kann“, erzählt Elisabeth Seitz im Gespräch mit unserer Zeitung. Die langen Wettkampftage im Rahmen der „Finals“ in Düsseldorf waren für die Mutter der Turner-Familie aber auch „richtiger Doppelstress“. Auf der einen Seite Elisabeth, die beste Turnerin Deutschlands, seit weit über zehn Jahren auf dem internationalen Parkett, routiniert; auf der anderen Seite Gabriel, zwölf Jahre jünger, gerade erfolgreich bei den Deutschen Jugendmeisterschaften und auf dem Sprung zu den Senioren. Als Mama ist man da an verschiedenen Fronten gefragt, im Dauer-Einsatz, mal hier, mal da. Aber als dann am Ende beide Kinder Medaillen um den Hals hängen hatten, war Claudia Seitz erfüllt von so viel Stolz wie selten zuvor.
„Wir haben uns so sehr für Gabriel gefreut, weil wir wissen, was er durchgemacht hat“, erzählt Elisabeth Seitz. Die Europameisterin am Stufenbarren hatte ihr Programm schon absolviert, als Gabriel nach einer fehlerfreien Reck-Übung zum Deutschen Vizemeister gekürt wurde. Nach der Landung ballte sie die Fäuste, als hätte sie selbst gewonnen, aus der Umarmung wollte sie Gabriel kaum lösen. Die Zuschauer wurden Zeugen von Augenblicken, in denen bei allen Beteiligten Ballast abfiel. Denn Eichhorn hatte sich nicht nur nach einem Fußbruch zurückgekämpft, sondern es auch all denjenigen gezeigt, die ihm vor einigen Jahren nach einer komplizierten Ellenbogenverletzung das Ende seiner Karriere prognostiziert hatten.
In Wahrheit steht sie erst am Anfang. Und Seitz weiß, woran das liegt. Sie zieht den Geschwistervergleich zwar nicht gerne, sagt aber: „Er ist deutlich fokussierter und zielorientierter als ich in meinen jungen Jahren.“ Während sie einfach trainierte, um besser zu werden, träumte Eichhorn früh von großen Triumphen und schillernden Pokalen. So ist es halt, wenn man als Siebenjähriger der Schwester bei Olympischen Spielen zujubelt – und schon als Baby Dauergast in der Turnhalle war. Seitz erinnert sich noch gut an die täglichen Fahrten von Altlußheim nach Mannheim, auf denen Gabriel im Maxicosi „immer eine gute Unterhaltung war“. Endlich angekommen musste man den Kleinen regelrecht zurückhalten, nicht sofort an die Geräte zu gehen. Mit fünf Jahren durfte er dann. Seitdem will der heute 17-Jährige nicht mehr aufhören – sondern seiner Schwester nacheifern. Seitz: „Ich würde schon behaupten, dass ich sein Vorbild bin.“
Alles andere würde überraschen – warum sich nicht an den Besten orientieren? Zumal Eichhorn den Beinamen „Wettkampfsau“ trägt wie seine Schwester. Seitz sagt: „Wir sind ziemlich cool“ – und sie sieht in ihrem Bruder auch den „Hauch Fabian Hambüchen“, den externe Beobachter nicht erst einmal erkannt haben. Eichhorns Paradegeräte sind Reck und Barren, auch an den Ringen fühlt er sich wohl. Und was er erreichen will, weiß er sowieso.
Die 25 Meistertitel von Seitz sollen es sein, die Rekordhalterin weiß, „dass er dafür lange durchhalten müsste“. Weil die Männer aber an sechs und nicht nur vier Geräten an den Start gehen, könnte es doch schneller gehen, als sie denkt. Zumal Eichhorns Fokus nach bestandenem Abi voll auf dem Sport liegt. Auch das lästige Pendeln fällt weg.
Irgendwann wird Seitz von der Tribüne aus zusehen, wenn ihr Bruder über die Holme fliegt. „Er steht ganz am Anfang, ich bin ein alter Hase“, sagt sie. Trotzdem verzichtet sie ganz bewusst auf den Ausdruck „am Ende“. Die Olympischen Spiele im kommenden Jahr in Paris sind das nächste Ziel, aber auch danach, sagt sie, „höre ich nicht definitiv auf“. Für ihre Entscheidung wird sie sich Zeit nehmen, sie wird beeinflusst von vielen Faktoren, womöglich auch von der Aussicht, Olympische Spiele gemeinsam mit Gabriel zu erleben?
„Das wäre schon Wahnsinn“, sagt sie, Träumen wird ja erlaubt sein. Und wenn es nicht das Olympische Podium ist, dann halt das heimische Wohnzimmer. „Also das mit dem Handstandwettbewerb“, sagt Seitz, „das probieren wir jetzt bald mal aus.“