München – Aus seiner Zeit in Chelsea hat Thomas Tuchel eine Anekdote parat, die eigentlich alles beschreibt. Denn die Aktion, mit der der heutige Trainer des FC Bayern seinerzeit seinen Staff überraschen wollte, war durchdacht von vorne bis hinten. Ein Weißwurstfrühstück sollte es sein, und die Wurst kam – natürlich – vom Metzger des Vertrauens im Heimatort Krumbach. Tuchel musste früh raus, die Ware in seiner großen Kühltasche sollte frisch bleiben, dazu Brezen und süßer Senf gereicht werden, die er natürlich organisiert hatte. Auch bei der Zubereitung schaute er zu, entspannen konnte er erst, als das Mahl auf dem Tisch stand. So ist es eben, wenn man Perfektionist ist. Wie Tuchel selbst sagt: „Stärke und Schwäche zugleich.“
Wer die vergangenen viereinhalb Monate in München mit ihm verbracht hat, weiß, was er meint. Der 49-Jährige strebt nach dem Maximum, in all seinen Aktionen. Das gilt für den Alltag, aber vor allem den Beruf, denn im Interview mit dem Vereinsmagazin 51 gibt Tuchel zu: „Perfektionist und Fußballtrainer ist eine ziemlich katastrophale Kombination.“ Besonders heftig hat er das in der Zeit zwischen seiner Amtsübernahme und dem Saisonende gemerkt, in der er diesem verunsicherten und ausgelaugten Team so gerne geholfen hätte, aber einsehen musste, dass er nicht mehr als Schadensbegrenzung leisten kann. Seine echte Mission beim FC Bayern hat erst im Anschluss an die glückliche Last-Minute-Meisterschaft begonnen, der Blick in der Analyse, die bei ihm „immer parallel zu den Ereignissen“ läuft, soll nach vorne gehen. Also dahin, wo Tuchel selbst für seine erste echte Spielzeit an der Seitenlinie des Rekordmeisters ausgibt: „Wir wollen Meister werden, endlich mal wieder zum Pokalfinale nach Berlin, und in der Champions League gehört der FC Bayern immer zu den Titelkandidaten.“ Einen wichtigen Zusatz schiebt er hinterher: „Bei allem wollen wir den Fans Freude bereiten.“ Mit Tuchel-Fußball.
Knapp ein Monat wird zwischen Trainingsauftakt und Pflichtspielstart vergangen sein, wenn am Samstag RB Leipzig zum Supercup gastiert. In der Theorie weiß man: Es geht Tuchel um „intensiven, schnellen und attraktiven“ Fußball, am besten in einer gesunden Balance aus Offensive und Kontrolle. Dazu „Energie, die sich von der Mannschaft auf die Ränge überträgt“, und ein Teamgedanke, in dem „jeder den Extrameter machen möchte für das gemeinsame Ziel“. Nur so könne man erreichen, was schon den kleinen „Thommy“ als Fan fasziniert hat: „Siegen, gegen alle Widerstände, selbst wenn man mal nicht gut spielt.“ Zur Identität des Clubs gehören für ihn die Eigenschaften „kernig, mannhaft, selbstbewusst“.
Klingt alles logisch, ist aber ein hartes Stück Arbeit. Dessen ist sich auch Tuchel bewusst, dessen Ansprüche auch kurz vor dem 50. Geburtstag „noch höher und gleichzeitig zum Motor für die eigene Weiterentwicklung“ werden. Intern, so erfuhr unsere Zeitung, sieht man heute einen anderen Tuchel als noch im Frühjahr. Verschlossener, dünnhäutiger, dazu ganz klar in der eigenen Meinung. Das merkt man an kleinen Dingen im Alltag – und in größeren wie der Transfer-Taskforce.
Einen kritischen Blick auf die jüngsten Entwicklungen hat Sky-Experte Didi Hamann. „Das Verhältnis Trainer-Verein wird spannend für mich. Ich könnte mir vorstellen, dass Tuchel nicht allzu gut zu sprechen ist auf den Club“, sagt der 49-Jährige. Das liege vor allem daran, dass sich der Coach – „nach dem Abgang der Führung der wichtigste Mann“ – bei der Verpflichtung des neuen Sportdirektors Christoph Freund übergangen gefühlt habe. Für Hamann ist klar, dass der Trainer nun „sein Ding durchziehe“ – auf allen Ebenen. Die öffentliche Forderung nach einem defensivstarken Sechser passt gut in diese Theorie. Hamann ist sich sicher: „Wenn er keinen kriegt und es nicht läuft, sagt er: Ich habe es euch gesagt!“ Nach gemütlicher Weißwurst-Stimmung klingt das nicht unbedingt.