„Sich nicht kritisch äußern, wird zum Problem“

von Redaktion

Ex-Welttorhüterin Nadine Angerer über Kommunikationsprobleme im deutschen Fußball

Erfolg bei einer WM, Australien, der deutsche Fußball: Die ehemalige DFB-Keeperin und zweifache Weltmeisterin Nadine Angerer (44) kennt sich mit allem aus. Im Interview mit unserer Zeitung analysiert sie das deutsche Aus, was sich zu ihrer Zeit verändert hat und erzählt von ihrem Job als Torwarttrainerin bei den Portland Thorns (USA).

Die WM war für Sie eine Reise in die Vergangenheit: Sie haben zwei Jahre in Brisbane gespielt. Hätten Sie gedacht, dass so eine Stimmung in dem Land möglich ist?

Ich bin nicht wirklich überrascht, aber von der Stimmung begeistert. Ich habe Frankreich gegen Jamaika in Sydney gesehen, das war eine Hammerstimmung trotz eines 0:0. Oder auch die Spiele in Perth waren atmosphärisch grandios, und da hat ja nicht Australien gespielt.

Und was hat Sie sportlich am meisten beeindruckt?

Die Torwartleistungen sind unfassbar gut geworden. Ansonsten ist das Turnier natürlich voller Überraschungen. Wer hätte gedacht, dass Südafrika, Nigeria, Marokko oder Jamaika weiterkommen – und dass Deutschland ausscheidet. Ich habe dem Team wirklich zugetraut, dass sie nach dem letzten Jahr mit der Euphorie eine ganz große Rolle bei dieser WM spielen. Denn Talent ist genug da, und ich bin weiterhin großer Fan dieser Mannschaft.

Was ist schiefgelaufen?

In solcher einer Gruppe darf man niemals ausscheiden. Ich habe das Spiel Kolumbien gegen Marokko im Stadion gesehen; und mit Verlaub: Bei allem Respekt für beide, aber es ist eigentlich unmöglich, dass unser Team in dieser Konstellation rausgeht!

Woran hat es gemangelt? Spätestens nach der Niederlage gegen Kolumbien hätten doch früher Sie und andere Tacheles geredet…

Ich kann nicht einfach sagen, bei uns war alles besser, weil ich außer Alex Popp, Sara Däbritz oder Melli Leupolz kaum mehr eine Spielerin kenne. Ich habe ein Team mit Riesenpotenzial beobachtet, das aber die Ergebnisse nicht liefern konnte. Ich dachte, dass die Vorbereitungsspiele gegen Vietnam und Sambia die letzten Weckrufe waren. Vielleicht liegt systematisch im deutschen Fußball etwas im Argen, das strukturell im Verband etwas nicht richtig läuft? Ich hoffe, dass eine ehrliche Analyse stattfindet. Jetzt die Sachen schönzureden, bringt keinen weiter.

Was vermuten Sie?

Ich glaube, dass über viele Jahre die Spielerinnen in eine Schablone gepresst worden sind, Dinge nicht mehr ganz so klar anzusprechen und nicht anzusprechen dürfen. Annike (Krahn), Saskia (Bartusiak) und Celia (Sasic, Anm. d. Red.) und ich beispielsweise, wir haben Positives und Unangenehmes direkt zur Sprache gemacht, ohne Furcht vor Konsequenzen. Trotzdem waren wir ja gute Menschen (lacht). Sich bloß nicht kritisch zu äußern, ist über Jahre herangezogen worden – und das wird vielleicht gerade zum Problem.

Muss sich Martina Voss-Tecklenburg hinterfragen?

Wenn man in der Vorrunde ausscheidet, müssen sich die Spielerinnen, der Verband und die Trainerin hinterfragen. Das wird Martina auch tun. Das ist auch nichts Schlimmes und ein ganz normaler Prozess.

Könnten Sie sich mal vorstellen, zur DFB-Elf zurückzukehren und die Torfrauen zu betreuen?

Ich habe noch einen Vertrag für ein weiteres Jahr in den USA. Danach werde ich mal gucken, ob ich eine Veränderung möchte. Ich lebe seit zehn Jahren in Portland und fühle mich hier superwohl, weil ich im Verein auch viele Freiheiten habe: Ich habe ein eigenes Konzept entwickeln können. Aber vielleicht ist irgendwann die Frage, ob man zurück nach Europa möchte, näher zu Familie und Freunden – oder probiert man etwas ganz Neues aus? Zum Glück muss ich das jetzt nicht beantworten.

Interview: Frank Hellmann

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