„Reiß dir den Hintern auf und gib Gas“

von Redaktion

LEICHTATHLETIK Busemann über die nahende WM und Leistungsgedanken im deutschen Sport

München – Frank Busemann (48) wird die Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Budapest in gewohnter Rolle als ARD-Experte begleiten. Im Interview mit unserer Zeitung spricht der ehemalige Zehnkämpfer (Olympia-Silber 1996 in Atlanta) über das Trauerspiel in Eugene, neue Zehnkampf-Granaten und rasante Zeiten.

Frank Busemann, nach der Weltmeisterschaft in Eugene haben Sie gesagt, die Ausbeute der deutschen Leichtathletik (einmal Gold, einmal Bronze) wäre für die Seychellen ein ordentliches Ergebnis gewesen. Wie zuversichtlich sind Sie, dass wir die Seychellen dieses Mal schlagen können?

Das wird eng. Wenn die eine Goldene gewinnen, sind sie im Medaillenspiegel vor uns (lacht). Mal Spaß beiseite. Ich hoffe nicht, dass es wie in Eugene wird. Ich sehe nicht so viele offensichtliche Medaillenkandidaten. Die lassen sich an einer Hand oder sogar an drei Fingern abzählen. Julian Weber, Kristin Pudenz und einer unserer Zehnkämpfer. In den letzten Jahren haben wir uns daran gewöhnt, dass bei Malaika Mihambo eine Medaille sicher war. Da können wir froh sein, dass sie immer so nervenstark war. Beim DLV schaut man auch immer auf die Nationenwertung, bis Platz acht. Da müssen wir auf jeden Fall besser sein als in Eugene, das war ja ein Trauerspiel. Als alle mit hängenden Köpfen zu uns zum Interview kamen, nach dem Motto „Ich weiß auch nicht, woran es liegt“, das war nicht schön.

München hat dann für Euphorie gesorgt. 40 000 Fans im Olympiastadion, Glanzstücke von Julian Weber, Niklas Kaul, Gina Lückenkemper … Ist das etwas, was man als Athlet mit ins neue Jahr nehmen kann?

Sie erzählen gerade davon, und bei mir kribbelt es schon wieder. Ich denke mir: Boah, das war schon geil. Natürlich nimmt man so was mit. Dafür machst du den Käse ja. Die Jungs und Mädels, die da an den Start gehen, wollen genau solch emotionale Erlebnisse. Die wollen Emotionen pur, und genau das haben sie in München erlebt. Das ist abgespeichert und ein Antrieb, den du immer wieder hast. Wenn du immer nur mit gesenktem Kopf, einer Niederlage und wenig Stimmung aus dem Stadion rausgehst, fragst du dich irgendwann auch: Wofür mache ich das hier eigentlich? München ist eine Genugtuung für alle gewesen. Eugene abzuhaken und optimistisch nach vorne zuschauen. Natürlich sprechen wir jetzt von globalen und nicht kontinentalen Titelkämpfen. Das ist ein ganz anderes Kaliber. Aber die Grundstimmung ist erst mal da. Auch wenn die Absagen natürlich trüben.

Unter anderem der Ausfall von Mihambo, der nicht zu kompensieren ist?

Nein, das kannst du natürlich nicht kompensieren. Sie ist das Gesicht der deutschen Leichtathletik seit mehreren Jahren. Ein Garant für Erfolge. Wenn bei den Amerikanern so eine wie Malaika ausfallen würde, würden sie sagen: Okay, dann gewinnen wir halt nur 14 Goldmedaillen (lacht). Aber bei uns ist das schon eine harte Nuss.

Sie haben die deutschen Zehnkämpfer schon angesprochen. Wie haben Sie reagiert, als Leo Neugebauer den deutschen Rekord gebrochen hat?

Ich bin aus dem Bett gefallen, Mensch (lacht). Ich habe das Ding verfolgt, und beim Stabhochsprung habe ich mir aufgrund der Zeitverschiebung gedacht: Ich muss jetzt echt mal schlafen. Morgens schaue ich auf das Handy und sehe hinter Leos Namen die ganzen Rekorde. Ich bin ja mittlerweile Brillenträger, die Punkte waren leicht verschwommen. Was hat der denn da gemacht? Und dann sehe ich „deutscher Rekord“, unfassbar! Als der so gut unterwegs war, habe ich ein bisschen rumgerechnet und dann habe ich mir gedacht, ich sage es mal so, wie es ist: Der macht mehr Punkte als ich, also über 8700, Scheiße. Und dann fegt er sie alle weg (lacht). Wir müssen nicht in Budapest drauf warten, dass er da noch mal einen draufsetzt. Es gibt nicht viele perfekte Zehnkämpfe in der Weltspitze, das war einer davon.

Bei der U20-EM hat Zehnkämpfer Amadeus Gräber den Titel in beeindruckender Manier geholt. Gibt das Hoffnung, dass von unten wirklich was nachkommt?

Wir sind im Jugendbereich sehr häufig sehr erfolgreich. Dann ist immer die Frage, warum setzen sie sich ganz oben nicht durch? Warum zündet die nächste Stufe der Entwicklung nicht? Wie können wir Talente fordern, formen und begleiten, damit es nachhaltig Erfolg gibt? Niklas Kaul war auch eine Granate im Jugend-Zehnkampf, er hat sich oben etabliert. Bei Amadeus ist es auch der Hammer, was er schon raushaut. Wir dürfen ihn aber nicht kirre machen und unter Druck setzen.

Spielt der finanzielle Aspekt vielleicht eine Rolle, dass sich viele Sportler nicht zu hundert Prozent auf den Sport konzentrieren können?

Das spielt immer eine Rolle. Ich komme nicht aus einem reichen Elternhaus, aber aus einem verrückten Elternhaus, das mir alles ermöglicht hat. Leo hat in Amerika das große Glück, und das ist der grundsätzliche Unterschied zu unserem System, dass du mit Sport da wirklich was erreichen kannst. Du bekommst ein Stipendium und neben dem Sport beste Aussichten auf den Einstieg ins Berufsleben. Hier musst du eben schauen, wie du deinen Sport finanzierst. Der Sport ist hier immer nur so ein Abfallprodukt. Wenn man dann liest, dass es im Fußball keine Ergebnisse mehr geben soll und auch im Schulsport keine Einteilung mehr, wer gut und wer schlecht ist – wofür mache ich das dann? Ich mache Sport, um zu gewinnen. Das brauchen wir nicht abzuschaffen. Man will doch aufs Leben vorbereitet werden. Und das Leben ist hart. Das Leben ist nicht „Ist doch nicht so schlimm, wenn du Letzter wirst“, sondern „Reiß dir den Hintern auf und gib Gas“. Leistung muss sich lohnen.

Der DLV hat als Ziel ausgegeben, 2028 in Los Angeles wieder zur Top 5 in der Nationenwertung zu gehören. Wie bewerten Sie das Ziel?

Geil, wird aber schwierig (lacht). Wir können ja nicht sagen, dass wir mit den Seychellen konkurrieren wollen. Wir brauchen ja diesen hohen Anspruch. Leistungssport geht in die 0,2 Promille. Wir müssen dahin, wo es eng wird. Wieder zurück in die Spitze. Der Herausforderung muss man sich stellen. Aktuell scheint der Ansatz, in Amerika von den Besten zu lernen, erfolgversprechend. Sich dem direkten Nahkampf stellen. Damit man mal weiß, wie es ist, wenn im Training neben dir ein 9,80-Sprinter abgeht. Wie fühlt sich das an? Damit ich nicht geschockt bin, wenn der im Vorlauf auf einmal zwei Meter vor mir ist.

In der Leichtathletik wurden dieses Jahr wieder einige Weltrekorde gebrochen. Nehmen Sie das noch mit Erstaunen wahr?

Das ist leider der ständige Wegbegleiter des Leistungssports geworden, dass man jede gute Leistung mit Erstaunen wahrnimmt. Man kann einiges auf das neue Material zurückführen. Die 400 Meter Hürden sind prädestiniert für die neuen Carbon-Spikes, da ist es eher zwangsläufig, dass sie solche Zeiten raushauen. Ich glaube daran, dass Topleistungen sauber gebracht werden können. Sonst würde ich da nicht mehr hinfahren. Es ist nicht alles sauber, das ist klar. Aber die, die sauber sind, haben es verdient, dass sie Aufmerksamkeit bekommen. Und davon gibt es eine ganze Menge, davon bin ich überzeugt.

Interview: Nico-Marius Schmitz

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