Sydney – Eigentlich wollte Jill Scott zu dieser WM ja keine Kommentare abgeben. „Wenn ich Keira Walsh sage, dass sie einen besseren Pass spielen soll, ist das wahrscheinlich ein bisschen heuchlerisch. Sie würde denken: ‚Jill, du kannst nicht weiter als 15 Yards passen‘“, sagte die ehemalige englische Nationalspielerin.
Aber nun schreibt Scott doch Kolumnen, gibt Interviews. Denn eine bessere Zeitzeugin für die Metamorphose des englischen Frauenfußballs als die 36-Jährige gibt es kaum. Früher wurden die „Lionesses“ selbst im eigenen Königreich belächelt. Heute gratulieren Harry Kane, König Charles und Prinz William. Das Interesse auf der Insel gilt an diesem Wochenende noch einmal den Fußballerinnen, denn sie können nach der gewonnenen Europameisterschaft im eigenen Land im Finale gegen Spanien am Sonntag erstmals Weltmeister werden.
Das hätte die WM-Rekordspielerin Scott nie für möglich gehalten, als sie im August 2006 ihr erstes von 161 Länderspielen bestritt. Zu ihrer Schaffenszeit – beispielsweise noch bei der WM 2015 – war die Frauenfußballwelt eine andere. England hatte Gastgeber Kanada aus dem Turnier gekegelt, ehe im Spiel um den dritten Platz der allererste Sieg gegen Deutschland glückte (1:0). Damit konnten Medien endlich etwas anfangen. Die teils höhnische Berichterstattung und antiquierten Kommentare versiegten, die Akzeptanz wuchs rasant.
Die Führungsrolle beanspruchte 2016 erstmal weiterhin der Deutsche Fußball-Bund (DFB), als sich Titelsammlerin Silvia Neid mit dem Olympiasieg verabschiedete. Doch bei der WM-Endrunde 2019 in Frankreich sollten sich die Kräfteverhältnisse verschieben. Das englische Ensemble hatte einen Powerstil adaptiert, der sich am Weltmeister USA orientierte, der nur mühsam im Halbfinale die Oberhand behielt. Deutschland unter der aus der Schweiz geholten Martina Voss-Tecklenburg: Aus im Viertelfinale gegen Schweden. Im November 2019 strömten 77 768 Fans nach Wembley, um das Freundschaftsspiel England gegen Deutschland zu verfolgen. Eine DFB-Delegation ließ sich erklären, wie es FA und die Women’s Super League schafften, so viel Interesse bei Stakeholdern zu wecken.
Deutschland schien vergangenen Sommer wieder den Anschluss geschafft zu haben, als das EM-Finale gegen Gastgeber England erst in der Verlängerung (1:2) verloren ging. Doch die Schlussfolgerungen hätten unterschiedlicher nicht sein können. Während Voss-Tecklenburg ihre durch Fernsehshows tingelnden EM-Heldinnen in Watte packte, nahm Sarina Wiegman keine Rücksicht. Auch ihre Stars hätten nach dem EM-Rausch kaum noch Ruhe gehabt, erklärte die 53-Jährige nach dem Halbfinale gegen Australien, aber sie habe ihnen deutlich gemacht, dass sie noch mehr Entbehrungen auf sich nehmen müssten.
Englands Verteidigerin Alex Greenwood zog gegen Australien in letzter Minute voll durch, während Deutschlands Jule Brand gegen Kolumbien über die Härte fast erschrocken wirkte. Der DFB staunte im Frühjahr nicht schlecht, welche Fitnesswerte die Mutter gewordene Melanie Leupolz von Chelsea mitbrachte – bessere als fast jede Bundesligaspielerin.
Weitere Details: Für die WM gilt bei den Engländerinnen ein Social-Media-Verbot, weil das Wetteifern um Aufmerksamkeit den Spielerinnen mittlerweile bares Geld bringt. Beide Verbände entschieden sich für ein Quartier an der australischen Central Coast. Während die Deutschen in ihrem abgelegenen Golf-Resort in Wyong von Land und Leuten so viel mitbekamen wie im RTL-Dschungelcamp, wohnten die Engländerinnen in einem Wohlfühlhotel im Badeort Terrigal. Nebendran Cafés und Strand – und zum Training ins Stadion des Fußballmeisters Central Coast Mariners war die Busfahrt auch nicht unzumutbar. Dort sah oft das Aufwärmprogramm der Engländerinnen schon aus wie eine angeblich „rote Einheit“ bei den Deutschen.
Woher diese spürbare Gier kommt? Abwehrchefin Millie Bright hat eine Antwort. „Ich habe es schon eine Million Mal gesagt. Die Mentalität dieser Mannschaft ist etwas, das ich noch nie gesehen habe. Das kommt von Sarina.“ Sie meinte die vor zwei Jahren aus den Niederlanden verpflichtete Erfolgsgarantin Wiegman. Diesen Baustein brauchte es also, um Gipfel zu besteigen.
Wenn es im Olympic Park von Sydney so käme, würde dieses Team nicht nur am Trafalgar Square präsentiert, sondern vielleicht im offenen Bus durch London kutschiert. Schließlich würde sich der historische Bogen zu 1966 schließen, als die Männer das einzige Mal einen WM-Pokal gewannen. Doch selbst wenn es nicht so kommt – der Erfolg spricht für Wiegman. Und den englischen Fußball, zu dem sich auch noch Jill Scott zugehörig fühlt.