Budapest – Als Frank Busemann vor Schreck aus dem Bett fiel (Olympia-Silber 1996) und Jürgen Hingsen (Olympia-Silber 1984) vor Begeisterung gleich zum Hörer griff, blieb Leo Neugebauer cool. Anfang Juni stellte der Zehnkämpfer mit 8 836 Punkten einen neuen deutschen Rekord (vorher von Hingsen gehalten) auf, reiste mit dieser Leistung als Weltjahresbester nach Budapest. Wie viel mehr geht da noch nach diesem nahezu perfekten Wettkampf bei den College-Meisterschaften in Texas?
„Ich habe definitiv noch Luft nach oben. Der erste Tag war solide, nicht krass“, sagt Neugebauer. Zahlreiche persönliche Bestleistungen purzelten am zweiten Tag. Für den gebürtigen Görlitzer ist es immer noch schwer zu fassen, was er da eigentlich vollbracht hat. Es hatte sich nicht angedeutet, es gab zuvor keine Annäherung an den deutschen Rekord. „Ich habe mich definitiv überrascht. Es fühlt sich fast nicht echt an, dass es passiert ist“, sagt Neugebauer unserer Zeitung und muss lachen: „Aber es ist wirklich passiert.“
Von Freitagmorgen bis Samstagabend steigen die zehn Disziplinen, nach dem quälenden 1500-Meter-Lauf zum Abschluss steht der König von Budapest fest.
Wer das sein wird? Acht Zehnkämpfer haben in diesem Jahr schon über 8 500 Punkte erzielt, das Feld um Weltrekordler Kevin Mayer und Olympiasieger Damian Warner ist bärenstark, man kann ein Spektakel erwarten.
Und da will natürlich auch Niklas Kaul (als dritter deutscher Starter ist Manuel Eitel dabei), Europameister von München 2022, Weltmeister in Doha, mitmischen. „Ich sehe Niklas Stand jetzt auch stärker. Niklas kommt vom Aufbau von unten, er hat fast 8500 gemacht“, sagt Busemann unserer Zeitung: „Die College-Jungs sind bei den College-Meisterschaften immer gut dabei, das muss Leo jetzt bei den Weltmeisterschaften auf dieser Bühne bestätigen. Aber Leo hat noch Puffer, er hat Selbstvertrauen, er hat den American Lifestyle angenommen.“
Mit den deutschen Medaillenhoffnungen treffen zwei unterschiedliche Wege gen Weltspitze aufeinander. Die Eltern Stefanie und Michael Kaul formten Niklas zum jüngsten Weltmeister der Zehnkampf-Geschichte. Neugebauer studiert an der University of Texas, eingebettet in das Rundum-sorglos-Paket des College-Systems. Vollstipendium, ideale Trainingsmöglichkeiten rund um die Uhr, Ansprechpartner, die sich um das Akademische kümmern, damit Uni und Trainingspläne harmonieren. „Wir werden rundum versorgt, das habe ich so noch nie erlebt. Die Gelder werden hier am College gleichmäßig auf die Sportarten aufgeteilt“, erzählt Neugebauer: „Dadurch hast du in der Leichtathletik Möglichkeiten, die du in Deutschland nicht hast.“ Der 23-Jährige schwärmt vom Wert des Sports in Amerika. Die Colleges schmücken sich gerne mit ihren erfolgreichen Athleten und am liebsten eben mit nationalen Titeln. Neugebauer merkt, dass ihn immer mehr Leute erkennen: „Es fühlt sich cool an, wenn einen Leute kennen, die du noch nie gesehen hast. Das erfüllt mich mit Stolz und inspiriert mich.“
Der Start in Budapest verlief holprig. Die Koffer von Neugebauer kamen nämlich nicht an. Unter anderem zehn verschiedene Schuhe für die einzelnen Disziplinen fehlen also, zum Glück springen die Eltern ein und bringen Ersatz mit. Bleibt noch eine Frage: Wie geht das Duo damit um, dass der Druck von außen noch größer ist, nachdem es bislang keine deutsche Medaille gab? „Ich bin Neunter dieses Jahr in der Welt, die Frage geht an Leo“, sagte Kaul lachend. Doch von erhöhtem Druck will auch Leo nichts wissen: „Ich mache einfach mein Ding. Ich bin einfach ein lockerer Typ.“
Beide haben Budapest herbeigesehnt. Und wollen einfach ins Stadion. Keine Zeit mehr in der Stadt totschlagen. „Ich bin brenne darauf, endlich loszulegen“, sagt Neugebauer. Die Zehnkämpfer sind in Angriffslaune.