Kopfüber in den Abgrund

von Redaktion

Slackline-Ass Lukas Irmler ist immer alpiner unterwegs – und oft im Handstand

VON THOMAS JENSEN

München – Kopfüber in den Abgrund schauen. Zwischen dem Erdboden weit unter ihm nur seine Hände und das Band, auf dem er im Handstand balanciert – und mit dem er über ein Sicherungsseil verbunden ist. Über ihm der Himmel und außenrum: spitze Felszacken und einsame Gipfel.

So in der Luft zu stehen, ist die Lieblingsbeschäftigung von Lukas Irmler. Profi-Slackliner. Bekannt geworden durch viele Weltrekorde im Slacklinen, also dem Balancieren auf einem 2,5 Zentimeter breiten Band. Etwa den Rekord für die mit zwei Kilometern längste Slackline oder für die mit einem Kilometer längste Strecke mit Augenbinde. Doch von diesen „Superlativen“ ist der 35-jährige Irmler zuletzt doch „immer weiter weggekommen“, wie er es im Gespräch mit unserer Zeitung formuliert. Inzwischen im Fokus: „Abenteuer. Einfach zwei Türme, die man auf einem Foto entdeckt und da hochkraxeln mit der Slackline im Gepäck.“

Wobei das hockraxeln auf die Türme nach einer entspannten Freizeitbeschäftigung klingt, wenn der gebürtige Dachauer und Wahl-Miesbacher locker davon erzählt. Er klettert, seit er 16 ist, die Slackline hat er mit 18 entdeckt. Mit Kraxeln meint er Klettern oft im oberen Bereich der Schwierigkeitsskala, so wie es eben für Türme nach seinem Geschmack nötig ist: Markante Gipfel, von denen aus sich Slacklines zu benachbarten Gipfeln spannen lassen. Oft gekennzeichnet durch kantigen Fels, brüchiges Gestein – und Einsamkeit. „Berge neben berühmten Gipfeln werden oft vergessen. Die Routen sind dann oft anspruchsvoller und gefährlicher als man meint.“

Zwar ist Irmler immer im Team unterwegs, zu dem oft auch seine Freundin gehört, aber nur ein Teil des Teams erklimmt den berühmten Gipfel. Die anderen den Nebengipfel, um dort das mit einer Drohne vom anderen Team angeflogene Ende der Slackline zu empfangen und befestigen.

Aktuelles Beispiel: Der Grand Capucin (3 838 Meter) im Mont Blanc Massiv und der weniger bekannte benachbarte Clocher du Tacul. Der Grand Capucine kann unter einem Merkmal als schwierigster Gipfel der Alpen gesehen werden. Denn die leichteste Route auf ihn ist mit dem VII. Schwierigkeitsgrad bewertet. Anspruchsvoller ist der „Normalweg“, die gängige Route also, auf keinem anderen Gipfel.

Auf ihn schaffte es Irmler bei den beiden Versuchen in diesem und im vergangenen Jahr. Aber die beiden ausprobierten Routen auf den selten begangenen Clocher du Tacul waren zu schwer. „Brüchiges Gestein auf den letzten Mentern“, erzählt Irmler.

Aber es gibt etwas, das ihn die Slackline am meisten gelehrt habe, sagt er: „Wenn du eine Idee hast, musst du weiter machen. Egal wie schlecht die Erfahrungen am Anfang sind.“. Der Grand Capucine bleibt also auf seiner Liste.

Nicht aufgegeben hat er auch beim Handstand auf der Highline (also einer Slackline weit über dem Boden), obwohl er zugibt: „Ich hatte schon fast aufgehört daran zu glauben.“ Acht Jahre habe er gearbeitet und trainiert, dieses Jahr sei „der Knoten geplatzt“: „Bei manchen Highlines hat es bis zu 40 Sekunden funktioniert, was Wahnsinn ist. Auch wenn zur Wahrheit gehört, dass es meistens nur um die fünf Sekunden gelingt. Daher kann man sich über jeden Handstand freuen, der irgendwie klappt.“

Im Handstand in der Luft, neben spannenden Gipfeln: Dass ihn seine Slackline-Karriere dorthin führt, hätte er zu Beginn wohl nicht gedacht: „Inzwischen sind solche Orte meine Leidenschaft.“ Eine Leidenschaft, von der er seit Jahren leben kann und die ihm inzwischen ein zweites Standbein als als Vortragsredner ermöglicht hat – „davon hätte ich am Anfang nicht mal geträumt. Wenn man sich solche Sachen vornimmt, würde es nie funktionieren“, sagt er über seinen ungewöhnlichen Werdegang.

In den Sphären, die er erreicht hat, beeinträchtigt es ihn auch nicht, dass der Slackline-Boom von vor einigen Jahren, als man die Sportart sehr oft in Parks und an Seen zu Gesicht bekam, verflacht ist. „Es hat sich aus einer Trend- in eine Nischensportart entwickelt“, ordnet Irmler ein, mit „einer kleinen hartnäckigen Gruppe wirklicher Sportler“, die den Boom genutzt hätte. Und manche von ihnen sind nicht nur beim Slacklinen hartnäckig, sondern auch beim Erklimmen schwierigster Gipfel.

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