Wolfsburg – In diesen Tagen ist Wolfsburg das pure Idyll. Ein Wetterchen wie im Südeuropa-Urlaub, der Mittellandkanal fließt träge dahin, als lüde er zur Meditation ein. Die Szenerie gefällt den deutschen Fußballern, das sagen sie wirklich, es ist keiner der üblichen Wolfsburg-ist-langweilig-Witze. Die Wege sind kurz, das Hotel gilt als eines der besten des Landes, der Trainingsplatz D auf dem VfL-Gelände ist so perfekt, dass er sogar eine der gefürchteten Qualitätskontrollen des früheren VW-Diktators Martin Winterkorn bestanden hätte.
Und doch liegt über all dem die Ahnung einer möglichen Endzeit. Die Spieler, die der DFB an die Öffentlichkeit geschickt hat – Robin Gosens, Marc-Andre ter Stegen, Niklas Süle, Jonas Hofmann, Kai Havertz, Julian Brandt –, sie alle versichern, sich der besonderen Verantwortung bewusst zu sein. Man trifft nun auf Japan (Samstag, 20.45 Uhr, RTL), danach in Dortmund auf Frankreich (Dienstag, 21 Uhr, ARD), „und wir sehen das nicht als Freundschafts- oder Testspiele“, so Kai Havertz. Es geht darum. ob die Nationalmannschaft nach nur vier Siegen aus den zurückliegenden 16 Partien überhaupt noch so etwas wie Anteilnahme auslösen und eine Erwartung für die Heim-EM 2024 schaffen kann. „Man muss jetzt einen Switch finden, damit man in die neun Monate zur EM reinkommt“, fordert Julian Brandt, der Dortmunder.
Das ist natürlich auch aus dem Bereich der Phrasen: die Fans zurückgewinnen, für Euphorie sorgen, „das Land und uns stolz und glücklich machen“ (Havertz). Das kann man immer sagen. Was direkt nicht angesprochen wird, aber in der Luft liegt, sodass jeder es spürt; Es geht darum, ob nach diesen beiden anstehenden Spielen Hansi Flick noch Bundestrainer bleiben kann oder der DFB erstmals in seiner Geschichte zwischen den Turnieren durchgreifen muss.
Flick wird am Freitag erklären, wie er zunächst die Aufgabe gegen Japan angehen wird. Nicht nur taktisch, es kommt die psychologische Komponente dazu, denn der Wolfsburger Gegner Japan ruft die Erinnerungen wach an den WM-Auftakt in Katar, an die 1:2-Niederlage. Das „Was wäre, wenn wir die Chancen in der ersten Halbzeit besser genutzt hätten?“ (Brandt) beschäftigt die Deutschen bis heute. So verstärkte die Pleite das Gefühl im Kader, das Kai Havertz noch einmal beschreibt: „Wir hatten keinen Support aus dem eigenen Land, wir waren auf uns allein gestellt. Das war bei anderen Nationen nicht so.“
Am Samstag sollen also die Schatten der jüngeren Vergangenheit vertrieben werden – und auf Hansi Flick ein freundlicheres Licht fallen. „Hansi hat die letzten Monate auf die Schnauze bekommen“, meint Julian Brandt, „aber wir erleben ihn hier sehr klar. Er bringt rüber, was er will. Dass wichtig ist, was am Samstag passiert, das ist uns klar.“
Flick scheint jetzt eine Kernmannschaft finden zu wollen und ein System, an dem nicht mehr herumgedoktert wird. Mit Joshua Kimmich als Rechtsverteidiger, der ins Mittelfeld schieben darf, mit Ilkay Gündogan in der Zentrale; ein 4-4-2, das je nach Situation mit Kimmich als 3-2-2-3 zu lesen ist. Bitter: Jamal Musiala steht für beide Länderspiele nicht zur Verfügung: Rückenprobleme. Laut Julian Brandt setzt Flick verstärkt auf Standards: „Wir entwickeln das schon über Monate und haben, so denke ich, eine Waffe.“
Das Spiel am Samstagabend ist nun ausverkauft, die 25 000 Plätze in der Volkswagen Arena werden besetzt sein. Auch die Gratistickets für die öffentliche Trainingseinheit am Sonntagvormittag sind vergeben.
Besteht also doch noch Interesse am Wohl und Wehe der deutschen Nationalmannschaft und am Schicksal von Hansi Flick? Oder ist der Katastrophentourismus bereits im Gange? Die Lage, das streitet niemand ab, ist ernst.