Wolfsburg – Schlusspfiff – und die Show geht los, so wie sie geplant war. Kinder rennen auf den Platz und breiten im Mittelkreis ein großes Banner mit dem Logo der Nationalmannschaft aus; die Marke muss in Szene gesetzt werden. Der Stadion-DJ drückt auf seiner Playlist „Waving Flags“, es ist eines der Lieder der WM 2010 in Südafrika, es transportiert Fröhlichkeit und Leichtigkeit. Doch das passt jetzt alles nicht mehr. Es ist der Soundtrack aus einer vergangenen Zeit, als der deutsche Fußball leicht und voller Perspektive war.
Jetzt liegt bleierne Schwere über ihm, die Nationalmannschaft hat 1:4 (1:2) gegen Japan verloren und weiß inklusive Trainer nicht mehr weiter. Die Tiefpunkte werden tiefer, auch abseits der Turniere. Ein 1:4 gegen Japan, das zwar Spieler aus guten europäischen Clubs hat, aber eben auch aus Bochum und Düsseldorf, ist vergleichbar mit einem 0:6 in Spanien, wie es noch Joachim Löw im November 2020 erlitt. Das 1:4 gegen Japan hat eine weitere Vergleichsgröße: Bei der EM in Katar, zehn Monate zuvor, unterlagen die Deutschen 1:2, konnten sich aber darauf berufen, das Spiel weitgehend dominiert und nur eine schwache Phase gehabt zu haben.
So kann man das Geschehen von Wolfsburg nicht schönreden. Hansi Flicks Team wurde schlicht und ergreifend hergespielt. Es traf ein wirres, ungeordnetes Team (Deutschland) auf ein straff geführtes mit Idee und Strategie (Japan). Joshua Kimmich stieg ein in die Diskussion, die die handelnden Personen bislang vermieden hatten. Unter den Entscheidungsträgern hieß es immer, die Qualität des deutschen Fußballs liege nicht weit entfernt von der Argentiniens und Frankreichs, das am Dienstag (21 Uhr, ARD) in Dortmund der nächste Gegner ist.
Kimmich sagt nun: „Wir haben eine gewisse Qualität, aber das reicht offensichtlich nicht, um mal ein Spiel zu gewinnen. Es ist nicht so, dass wir dreimal gut spielen, ein Spiel verlieren und dann zwei wieder gut sind.“ Deutschland gewinnt eigentlich gar nicht mehr, in diesem Jahr gelang das nur gegen Peru – „und bei allem Respekt“, so Ex-Kapitän Kimmich, „wir haben nicht gegen die großen Fußballnationen gespielt“.
Thomas Müller kam in der zweiten Halbzeit rein. Einer aus der Generation der „Waving Flags“, in Südafrika vor dreizehn Jahren hatte er für Begeisterung gesorgt. Er ist immer noch gewillt, dem deutschen Fußball zu helfen, er ist eine integre Persönlichkeit, die die anderen anfeuert, beklatscht, freundschaftlich gecoacht – doch er kommt kaum noch an einen Ball. Aus seiner Wahrnehmung von der Bank analysierte er die erste Halbzeit als „nicht verkehrt. Aber nicht verkehrt ist halt nicht gut genug“. Der Münchner bringt die Misere auf den Punkt: „Wir bekommen einfache Gegentore, aber wir schießen keine einfachen Tore.“
Wenn eines gelänge, dann sei das „schön herausgespielt“ wie das 1:1 von Leroy Sané nach Vorarbeit von Kimmich, Ilkay Gündogan und Florian Wirtz. Doch es sieht so aus, als verlache der jeweilige Gegner die Deutschen für deren Aufwand. „Unsere Gegner haben von den Spielerprofilen oft die einfacheren Fußballer, aber sie spielen schnörkelloser, disziplinierter“, sagt Müller.
Er hält kurz inne, überlegt: Stimmt das überhaupt noch, dass die japanischen Spieler die schlechteren sind? Eigentlich nicht, wenn man ihre viele gewonnenen Schlüsselszenen gegen Deutschland sieht. „Japan“, fährt Müller fort, „gehört momentan zu den Top zehn, fünfzehn. Wir gehören da nur in der Theorie rein, die Praxis sieht anders aus.“ Der Anspruch, „den wir formulieren oder den man zwischen den Zeilen herauslesen kann“, sei „zu hoch angesetzt. Schlussfolgerung: „Die deutsche Nationalmannschaft steht in der Gesamtperformance nicht für das, was wir uns halten.“
Hansi Flick klang in seinem letzten Bundestrainer-Statement nach Kapitulation: Die Japaner seien gut ausgebildet, beherrschten die Basics, die zu lehren man hierzulande versäumt habe: „Der deutsche Fußball muss aufwachen. Gut, das hilft uns aktuell auch nicht weiter.“ Vor allem ihm nicht mehr. Der DFB stellte ihn am Sonntagnachmittag frei,
Was die Mannschaft, die für das nächste Spiel dem Trio Rudi Völler, Hannes Wolf und Sandro Wagner überantwortet wird, hatte: den Willen, sich selbst und ihren Trainer nicht hängen zu lassen. Sie hatte einen Torwart Mac-Andre ter Stegen, der einige gefährlich misslingende Pässe spielte, in Eins-gegen-eins-Situationen aber gut stand. Sie hatte einen Joshua Kimmich, der mit seiner reduzierten Rolle abfand. Sie hatte vorne zwei Spieler, Leroy Sané und Florian Wirtz, die sich abhoben von den anderen.
Doch sonst? Chaos auf der linken Abwehrseite, zuerst verursacht von Nico Schlotterbeck und dann von Robin Gosens. Antonio Rüdiger und Niklas Süle fahrig, wenn sie Gegnerdruck erlebten. Emre Can im defensiven Mittelfeld – ein gemächlicher Mitläufer. Serge Gnabry konnte nicht verbergen, wie in ihm die Selbstzweifel aufstiegen. Kai Havertz – kein Mittelstürmer. Ilkay Gündogan – solide, aber halt wieder der DFB-Gündogan, ewig auf der Suche nach sich selbst, wenn er das weiße Trikot anzieht.
Auch die Kleidung der Nationalmannschaft hat keine Konjunktur mehr. In Wolfsburg gibt es eine Mall mit Outlets, bei DFB-Ausrüster Adidas wurden Deutschland-Trikots für 20 Euro (Damenmodell) und 25 Euro (Männer) angeboten, der Nachlass geht bis zu 78 Prozent. Selbst die vergiftete Ware von Kanye West verschleudert Adidas nicht derart. Die deutsche Nationalmannschaft ist Konkursmasse.