Er hat es durchgezogen, zumindest fast. Gut, bei den drei DFB-Spielen hat er reingezappt – und beim Finale ab der 60. Minute begeistert zugesehen. Ansonsten aber ist all das, was da im Winter 2022 in Katar passierte, an Andreas Rettig vorbeigezogen. Für einen Mann, der seit fast vier Jahrzehnten im Profi-Fußball tätig ist, war der WM-Boykott, den sich der 60-Jährige selbst auferlegt hatte, schon ein starkes Stück. Ein Zeichen dafür, dass das aufgeblasene Millionengeschäft selbst im eigenen System nicht mehr nur ankommt. Umso interessanter ist es, dass Rettig – dessen Verpflichtung als Geschäftsführer Sport am Freitag vom DFB verkündet wurde – nun wieder mitmischen will. Den Entscheidungsträgern dürfte bewusst sein, dass ab jetzt ein anderer Wind weht.
Offiziell hat Rettig das Amt von Oliver Bierhoff übernommen – wirken jedoch wird er wie ein Anti-Bierhoff. Daher ist der Schritt, der durchaus überraschend kam, vor allem vom krisengeschüttelten Verband ein mutiger. Wenn Rettig auch nur ansatzweise so kritisch agiert, wie er es zuletzt als Außenstehender getan hat, wird es für alle Beteiligten nicht nur gemütlich werden. Da ist jemand, der den Finger gerne in Wunden legt, und zwar tief. Und der mit dem aalglatten System, das in den vergangenen Jahren um die Nationalmannschaft gestrickt wurde, wenig bis gar nichts anfangen kann.
Die vom entlassenen Bierhoff stets zitierte „Lagerfeuerromantik“ des Fußballs, hat er sogar öffentlich belächelt. Tenor damals: „Längst erkaltet!“ Und wenn nichts passiert: „Erloschen!“ Man darf davon ausgehen, dass Rettig mit Worten wie diesen nun auch nach innen wirken wird. Expertise dafür hat er genug. Wer vier verschiedene Bundesligisten gemanaged hat, dazu zwei Jahre der DFL vorstand und auch in den unteren Ligen Verantwortung trug, weiß, worauf er sich einlässt. Und er weiß auch, dass es eine Menge zu tun gibt, um die erhoffte Wende zum Guten zu schaffen.
Der DFB nannte Rettig offiziell „erfahren, engagiert und durchsetzungsstark“. Andere sagten einst lieber „Schweinchen Schlau“ (Rudi Völler) oder „König der Scheinheiligen“ (Uli Hoeneß). Dass allein die Personalie Rettig polarisiert, ist ja schon mal nicht schlecht. Reibung erzeugt bekanntlich Energie. Und die braucht es, wenn Rettig – und viele andere – bei der nächsten WM wieder Fans dieses schönen Spiels sein sollen.
Hanna.Raif@ovb.net