Marathon immer krasser

Die Kunst des Sprintens

von Redaktion

GÜNTER KLEIN

Vorne in nie da gewesener Ballung Topzeiten, dann noch der Deutsche Rekord durch Amanal Petros – der Berlin Marathon lieferte am Sonntag auf vertraut spektakuläre Weise die Klasse, für die er seit Jahr(zehnt)en steht. Als man sich als Zuschauender schon zurücklehnen wollte und glaubte, jetzt kämen an Bemerkenswertem nur noch die vielen reizenden Breitensport-Geschichten aus Reihen der Hobbymarathonis, knallte es beim größten deutschen Stadtlauf so richtig: Die Äthiopierin Tigist Assefa knallte einen Weltrekord auf den Asphalt der Hauptstadt, der der in der Leichtathletik seltene Fall eines Quantensprungs ist; Kategorie Bob Beamons 8,90 Meter im olympischen Weitsprung von Mexiko 1968. Assefa brachte die 42,195 Kilometer in 2:11:52 Stunden hinter sich. Eine Zeit, vor der man sich auch verneigen würde, wenn sie von einem Mann gelaufen würde. Es ist noch nicht lange her, dass es Jahre gab, in denen die deutsche Männer-Bestzeit schlechter war.

Die Marathon-Szene muss angesichts dieses Sturmlaufs von Assefa ein schlechtes Gewissen bekommen haben. Denn obwohl auch bei den Frauen das Niveau gestiegen war, feierte man immer nur die Männer. Schön, dass sich die Wahrnehmung dessen, was außerordentlich ist, nun auch in eine andere Richtung verschiebt.

Es geht aber nicht darum, die beiden Geschlechter gegeneinanderes auszuspielen. Der Frauen-Weltrekord von Berlin fügt sich ein ins Gesamtbild einer Sparte, die für die spektakulärste Entwicklung steht. Muss man misstrauisch sein? Im Hochleistungssport immer, klar, Doping geht nicht weg, es ist nur smarter geworden. Doch auf der langen Laufstrecke spielen auch andere Faktoren eine Rolle: besonders die Materialentwicklung. Wer sich etwa in einer Vitrine des Münchner Olympiastadions den 1972er-Schuh von Olympiasieger Frank Shorter ansieht und ihn vergleicht mit den neuen Wunderwerken von Nike und Adidas, dem erscheint plausibel, dass heute fast zehn Minuten schneller gerannt wird. Außerdem: Athleten und Läuferinnen warten nicht mehr ins hohe Alter jenseits der 30, ehe sie zum Marathon wechseln, sie tun das früher und trainieren sich so tempohart, dass sie die erste Hälfte nicht kraftsparend laufen, um genug Körner für die zweite zu haben.

Der Sinnspruch, Marathon sei die Kunst des Wartens, ist in der Spitze passé. Marathon ist die Kunst des Sprintens.

Guenter.Klein@ovb.net

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