„Jetzt dreht sich alles um die Familie!“

von Redaktion

Natalie Geisenberger über eine erfüllte Karriere und Sohn Leo auf dem Holzschlitten

„Was will ich denn mehr?“, fragt Natalie Geisenberger im Interview mit unserer Zeitung. Nach sechs Goldmedaillen bei Olympischen Spielen, neun Weltmeistertiteln und acht Triumphen im Gesamtweltcup gab die 35-Jährige ihre Karriereende bekannt. Die Zeit gehört jetzt ganz der Familie um Sohn Leo und Tochter Lina. Sorgen macht sich Geisenberger um die Zukunft ihres Sports.

Frau Geisenberger, zum Abschied sprachen Sie von „zwei lachenden Augen“. Sind auch Tränen geflossen, als die Nachricht draußen war?

Zumindest bei mir nicht (lacht). Aber es ist ja auch eine Entscheidung, die in mir gereift ist. Es war ein längerer Prozess, deshalb habe ich mich auf den Moment gut vorbereiten können.

War er so wie erhofft?

Ja. Für mich ist es der perfekte Zeitpunkt. Womöglich wird im Winter – oder vor allem bei den Olympischen Spielen 2026 – der Moment kommen, an dem ich sage: „Ach, vielleicht wäre es ja doch noch cool gewesen.“ Aber ich glaube es momentan nicht. Weil ich mit mir im Reinen bin, glücklich und zufrieden. Diese Olympischen Spiele in Peking, nochmal zwei Goldmedaillen zum Abschluss – was will ich denn mehr? Ich schaue zurück und denke mir: War eine coole Zeit!

Wie waren denn die Reaktionen von Wegbegleitern und Freunden: Ausschließlich Anerkennung – oder wollte man Sie umstimmen?

Es kamen Kommentare wie „schade“ und „ich werde Dich vermissen“. Aber alle konnten meine Entscheidung vollkommen nachvollziehen. Ich war total begeistert, auch als ich auf Social Media geschaut habe. Es waren ausschließlich positive Reaktionen, auch von Leuten, von denen ich eigentlich gar keine Reaktion erwartet hatte. Es haben sich so viele Leute für die Zeit bedankt, die tollen Momente, die Emotionen. Das hat mir schon gezeigt, dass ich nicht so viel falsch gemacht habe.

Nach Ihrer ersten Geburt haben Sie sich nur zwei Wochen Trainingspause gegönnt. Ist Ihre Entscheidung nun schon kurz nach der Geburt Ihrer Tochter Lina gereift, als Sie nicht direkt wieder Vollgas gegeben haben?

Im Prinzip ging der Prozess schon nach Peking los. Dann kam die zweite Schwangerschaft – und ich dachte: „Puh… mit zwei Kindern nochmal in den Weltcup? Kann das gehen und würde ich das wirklich wollen?“ Dann kam die Geburt – und genau: Ich habe nicht zwei Wochen danach wieder trainiert. Dafür war ich mit den anderen Mamis im Rückbildungskurs. Die Zeit hab ich mir bei Leo nicht genommen, da hab ich längst wieder normal trainiert. Als Leo dann einen Kindergartenplatz bekommen hat, war das das letzte K.o-Kriterium gegen den Sport. Er ist jetzt drei Jahre, hat sein Umfeld, fängt an, Freundschaften zu knüpfen – da wollte ich ihn nicht mehr rausreißen. Ich bin in erster Linie Mutter und habe so lange Leistungssport betrieben, wie es ging und mit der Familie gut vereinbar war. Und jetzt dreht sich eben alles um die Familie! Und ich freue mich auf das, was kommt.

Ist mit der offiziellen Verkündung Ihres Karriereendes Ballast abgefallen?

Nein. Denn ich weiß es ja schon länger. Blöd war es in den letzten Wochen, wenn mich jemand gefragt hat, was Sache ist. Jeder, der zwischen den Zeilen lesen konnte, hat es sich aber denken können.

Felix Loch hat Sie zum Abschied „Legende“ genannt. Sind Sie der weibliche Hackl Schorsch?

(lacht) Ich denke so nicht. Aber die Erfolge, die ich hatte, sind schon gewaltig – auch für mich selber. Wenn mir das jemand am Anfang meiner Karriere gesagt hätte, wäre ich wahrscheinlich sogar sauer geworden, weil ich mich gefragt hätte: Wie soll das gehen? Heute sage ich: Es ist Wahnsinn. Und „Legende“ dürfen andere sagen, wenn sie das wollen…

Sprechen wir es mal aus: Sechsmal Olympia-Gold, neun Weltmeistertitel und acht Triumphe im Gesamtweltcup. Haben Sie alles noch vor Augen – oder verschwimmen so viele Erfolge irgendwann zu einer breiten Masse?

Auf die Bilanz blicke ich mit Stolz. Aber ich kann mich nicht an alle 52 Weltcup-Siege erinnern, als wären sie gestern gewesen. Dafür gibt es einige Momente, die noch voll da sind.

Der Sieg in Peking – oder etwas anderes?

Peking ist klar, das war das I-Tüpfelchen auf meiner Karriere und für mich vollkommen unerwartet. Und es war für mich insofern besonders, als dass ich meiner Familie etwas zurückgeben konnte. Diese Medaille ist für mich voller Emotionen, wenn ich sie anschaue, denke ich an diese ganze Zeit seit meinem Comeback und an all das, was wir als Familie geleistet haben. Mit wahnsinnigen Emotionen verbinde ich auch die WM am Königssee 2016, weil ich mir so viel Druck gemacht habe. Ich wollte da gewinnen – der zweite Platz wäre für mich eine Katastrophe gewesen. Dazu kommen die anderen Olympischen Medaillen und der 50. Weltcup-Sieg in Oberhof. Ich war in dieser Saison so oft Zweite, der 50er wollte nicht so recht fallen. Aber der Wunsch nach dem 50er ist in meinem Kopf rumgelungert, warum auch immer. Am Ende wurden es 52.

Dabei bleibt es. Wie viel Sport gibt es aktuell noch in Ihrem Leben?

Wir sind eine sehr aktive Familie, viel draußen. Leo liebt es, zu klettern, Fußball zu spielen, freut sich jetzt schon auf Ski und Schlittenfahren. Wir gehen gern wandern, ich bin viel mit dem Radel – zugegeben mit dem E-Bike – unterwegs. Das Einzige, was ich momentan gar nicht mache, ist Krafttraining. Ich mache einen großen Bogen um die Gewichte aktuell. Wir brauchen gerade mal Abstand voneinander – stattdessen trage ich ja meine Kinder durch die Gegend.

Ist das vielleicht das Schönste am „neuen“ Leben: Selbst bestimmen zu können, was man machen möchte?

Ich habe den Sport nie als Belastung empfunden. Vielmehr war ich in der privilegierten Lage, dass ich mein Hobby zum Beruf machen konnte. Mein Mann arbeitet und macht seinen Sport davor oder danach. Ich habe meinen Sport gemacht – und war dann fertig. Natürlich habe ich nicht an allen Tagen „Hip Hip Hurra“ gerufen, wenn es zum Training ging. Aber das war kein „Müssen“. Ich fühle mich jetzt nicht freier als vorher. Schön ist nur, dass nicht mehr um 6 Uhr in der Früh die Dopingkontrolleure klingeln und mich wecken (lacht).

Geht der Blick aktuell eher nach vorne oder nach hinten?

Im Moment noch oft zurück. Aber für mich ist es eher die Gegenwart, die zählt. Ich genieße den Moment. Das, was war, war cool – und was die Zukunft bringt, hat sich noch nicht zu 100 Prozent herausgestellt. Aktuell bin ich in Elternzeit, es laufen Gespräche mit der Bundespolizei.

Geht es nach Norbert Loch, werden Sie schnell wieder eingebunden. Was schwebt Ihnen vor: Sind Sie der Typ Trainer – oder sehen Sie sich lieber im Verband?

Sag niemals nie, aber Trainer würde ich mehr oder weniger ausschließen. Ich will eben nicht mehr unterwegs sein, höchstens vereinzelt ein paar Tage. Bei der Bundespolizei will ich definitiv bleiben, am liebsten in Bad Endorf im Bereich Sport. Und mit dem Verband fangen die Gespräche jetzt erst an. In vielen Bereichen habe ich ein gutes Know-how, viel Erfahrung – und beide Seiten sind an einer Zusammenarbeit interessiert. Das ist schon mal eine gute Grundvoraussetzung.

Francesco Friedrich sagt über den Bobsport: „Unsere Enkelkinder werden ihn nicht mehr kennen.“ Ist das zu drastisch – oder machen auch Sie sich Sorgen um Ihren Sport?

Ich sehe das ähnlich. In unserem konkreten Fall muss ich gar nicht bis zu den Enkelkindern denken, da reicht die Generation der Kinder schon. Auf der Bahn am Königssee ist noch nichts passiert, die ist immer noch völlig zerstört und unbefahrbar. In Bayern also wird es mit Nachwuchs sehr schwierig. Wohin sich das Thema Energie entwickelt, ist auch ein wichtiger Punkt. Trotzdem sage ich aus voller Überzeugung: Man muss die Vielfalt des Sports im Hinterkopf behalten. Wenn es nur noch zwei, drei Sportarten gibt, wird es langweilig. Auch für die Kinder, die die Vereine brauchen, die ihre Vielfalt brauchen. Bewegung ist essenziell – aber nicht jeder mag Fußball spielen, andere wollen nicht Schlittenfahren. Wir müssen mit den Entscheidungen aufpassen! Das ist ein politisches Thema, das die ganze Gesellschaft betrifft.

Auch das Thema Mütter im Leistungssport liegt Ihnen am Herzen – Sie sind ein leuchtendes Beispiel. Was muss sich ändern, damit mehr Mütter diesen Schritt überhaupt wagen?

Unter anderen Umständen – nicht China und nicht Corona – hätte ich mein Kind gerne bei den Olympischen Spielen dabeigehabt. Da ich aber eine der Mütter bin, die ihr Kind öffentlich nicht zeigen will, müsste es einen Bereich für die Familien und Kinder geben, in dem keine Presse ist. Das ist zwar ein kleiner Punkt, aber für manche womöglich mitentscheidend. Außerdem müsste zwischen Schwangerschaft und Verletzung unterschieden werden. Es kann doch nicht sein, dass ich ab dem Moment der verkündeten Schwangerschaft den offiziellen Status „verletzt“ habe. Der Gedanke „Schwangerschaft ist automatisch Karriereende“ ist leider doch weit verbreitet.

Was regen Sie an?

Das Thema Schwangerschaft im Leistungssport ist so individuell wie kein anderes. Es gibt so viele verschiedene Herangehensweisen, dass die Individualität der Förderung, der Hilfestellung gewaltig sein muss. Allein der Gedanke „die kommt dann schon wieder“, reicht nicht aus.

Sie hatten die Unterstützung vieler Sponsoren, die vielleicht nicht jede hat.

Das stimmt. Alle waren positiv gestimmt – bis auf einen.

Und dem haben Sie es bewiesen!

Stimmt (lacht). Er hat aber von Beginn an gesagt: Wenn du es doch schaffen solltest, bin ich dabei. Und ich bin sehr froh, dass meine Sponsoren weitergemacht haben, denn das Comeback war nicht billig für mich. Meine Übernachtungskosten bei den einzelnen Weltcupstationen wurden vom Verband bezahlt, den Teil für meine Familie habe ich komplett selbst übernommen. In meinen Augen auch selbstverständlich, wer soll das denn sonst bezahlen? Und warum bei mir schon, bei einem Kollegen, der Vater ist und seine Familie mitnehmen möchte, aber nicht?

Wann darf denn Leo eigentlich rodeln?

Der ist schon letztes Jahr gerodelt – aber halt auf Schnee (lacht). Er hat einen Holzschlitten, einen Popo-Rutscher, einen Lenk-Bob. Es ist alles da! Aber er muss nicht rodeln, zumal die Bahn am Königssee weit weg ist – und aktuell ja noch zerstört ist. Ohne da jetzt an Leo zu denken: Dass das alles so lange dauert, ist für den Nachwuchs nicht ganz fair. So lange kann man die Kinder nicht bei der Stange halten. Es muss da jetzt etwas passieren – sonst ist es irgendwann zu spät.

Wenn die Bahn wieder repariert wird: Erfüllen Sie Felix Loch seinen Traum, noch einmal mit Ihnen herunterzurodeln?

Ich habe seit der Aussage noch nicht mit Felix geredet, aber ich frage mich: Meinte er im Doppelsitzer?

Wäre doch eine Option, oder?

Oder ich schaue einfach zu, wenn er fährt (lacht)? Spaß beiseite: Ich glaube nicht, dass ich mich noch mal auf einen Schlitten setze. Ich hatte den Nervenkitzel lange genug. Ich glaube, ich brauche ihn nicht noch mal.

Wo steht eigentlich Ihr Schlitten?

Im Keller – und da steht er gut. Ich werde ihn in Ehren halten. Und es ist schön zu wissen, dass er da ist.

Interview: Hanna Raif

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